Don´t feed the beast!

Aufklärer denken, dass sich die Wahrheit langsam, aber sicher offenbart. Darin ist die Aufklärung ganz Kind des Christentums. Auch Thierse ist jemand, der meint, die Wahrheit brauche Zeit, um sich zu zeigen. Und so bittet er um Verständnis dafür, dass manche bei den Forderungen der Identitätspolitik auf dem Marsch ins Licht nicht so mitkommen. „Ich wünsche mir, dass man dem „gemeinen Volk“ ein bisschen mehr Zeit lässt.“, so lässt er in dem Interview verlauten, das er dem Tagesspiegel gegeben hat. Die Bemerkung zieht allerdings seinen eigenen Thesen den Boden unter den Füßen weg.

Zu diesen schreibt Wikipedia „Die Identitätspolitik von rechts sei eine Politik, die zu Ausschließung, Hass und Gewalt führe. Und die Identitätspolitik von links führe, wenn sie einseitig und radikal betrieben werde, zu Cancel Culture. Das heiße, man wolle sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, die Ansichten hätten, die einem nicht passten. Das sei „ziemlich demokratiefremd“ und im Grunde demokratiefeindlich.“ So weit, so richtig. Doch was soll dann der Satz, man müsse dem gemeinen Volk mehr Zeit lassen, das Anliegen der Identity-Policy-Kaste nachzuvollziehen.

Und da sind wir eben wieder bei dem Grundproblem der Sozialdemokratie: Allen wohl und keinem Weh: ESPEDE. Man will es allen recht machen, auch dem ID-Monster, indem man seinen Forderungen nicht hart entgegentritt, sondern es bittet zu warten, bis auch das dumme Volk verstanden hat. Dabei sollte man eher mit Christopher Hitchens grundsätzlich feststellen: „Leute, die mit ihrer Haut, ihren Genitalien oder ihrem Clan denken, sind zunächst mal ein Problem.“ Und: „Der große Irrtum der heutigen politischen Korrektheit – um etwas zu sichern, das vage als” Vielfalt “bezeichnet wird, besteht es auf etwas, das definitiv als Konformität erkennbar ist.“ Anders gesagt: Wenn das dumme Volk endlich versteht, dass man mit schwarzer Hautfarbe, weiblichem Geschlecht und religiösen Überzeugungen grundsätzlich unterdrückt ist, sind wir immer noch nicht erlöst. Im Gegenteil.

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Wir othern, also sind wir

Othering ist ein Wort, das im Kontext der Identitätspolitik häufig vorkommt. Im Wesentlichen geht es dabei um Identität, die gewisse Voraussetzungen hat, nämlich das Andere. Ohne den Anderen erfahre ich mich nicht als Selbst. Anders gesagt: Der Eine macht den Anderen. Soweit, so banal. Beim Othering wird nun leider der Andere nicht immer so konstruiert, wie man das als humanistisch Gesinnter erhofft. Der russische Bauer wird zum Kulaken, damit man ihn ins Gulag schicken kann. Der Jude wird zum Rassenfeind, den man umbringen darf. Der Schwarze zum Minderbegabten, über den zu herrschen man die Pflicht hat. Der Mechanismus des Otherings liegt unter anderem darin, dass er das Selbst und die eigene Gruppe aufwertet. Der andere wird dabei oft abgewertet. Das ist schlecht.

Kann man nun nicht auch den Anderen anders konstruieren, damit der Andere sich wohlfühlt? Wie wäre es, man machte beispielsweise den Afrikaner zum Daueropfer des weißen Mannes und sich selbst zum bösen Kolonialherren im Geiste? Das wäre in der Tat eine beliebte Spielart der sozialen Konstruktion, die zurzeit sehr en vogue ist. Allerdings wäre dann der andere wieder auf eine andere Rolle festgelegt, die auch irgendwie fragwürdig ist. Denn der reiche Rapper ist ja nicht unbedingt das Opfer meiner postkolonialen Instinkte. Wobei ich in der Story ja irgendwie als weißer Herrscher auch geothert worden bin, allerdings von anderer Seite und auch nicht zu meiner vollsten Zufriedenheit. Wenn es überhaupt nicht wünschenswert ist, dass der Andere darüber befindet, wie man sich selbst zu sehen hat, dann dürfte keiner den anderen othern. Auch nicht unter umgekehrten Vorzeichen. Ist das möglich?

Dass wir immer irgendwie den anderen othern, ist kaum zu vermeiden. Denn wie will man leben, ohne durch Fremdzuschreibung sich selbst zu erfahren? Und wer sagt, wie der andere wirklich ist? Wenn man aber nichts falsch machen will, dann gibt es eine Möglichkeit, das Problem zu entschärfen, nämlich durch die gute alte Höflichkeit. Sie hält den anderen auf Distanz, ohne ihn zu verletzten. Die eigenen Vorurteile kann man dann behalten, wenn man Wert auf sie legt, indem man im Umgang mit dem Anderen einen distanzierten Umgang pflegt. Um gut miteinander auszukommen und nicht zu offensichtlich zu othern, sollte man also beim Sie bleiben und sich verhalten wie ein Gentleman oder eine Lady. Und schon sieht die Welt für alle ein wenig freundlicher. Ob wir allerdings in Zeiten, in denen jeder ständig vom anderen verlangt, sich zu bekennen, zu so einer befriedenden Distanz in der Lage sind, ist eine andere Frage.   

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Die Konstruktion der Konstruktion

Wenn man geistig Behinderte auf eine Schule für geistig Gesunde schickt, dann werden diese geistig gesund. Wenn ein Mann ein Kleid anzieht und dreimal spricht: Ich bin eine Frau!, dann ist er eine Frau. Wenn jemand fettsüchtig ist, und der Arzt rät zu einer Diät, dann ist das diskriminierend. Was sich auf den ersten Blick absurd erscheint, wird möglich, wenn man dem radikalen Konstruktivismus folgt. Dieser besagt, dass es keine objektive Realität gebe, sondern dass jede Realität immer das Produkt der eigenen Sinnesleistung ist. Es käme also nur darauf an, richtig mit den eigenen Sinnen richtig zu konstruieren, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. So gesehen müsste man einem geistig Behinderten nur ein Umfeld schaffen, in dem er sich als geistig Gesunder entwerfen kann. Und wenn der Mann in Frauenkleidern mit uns gemeinsam sein Frausein erschafft, dann wird er tatsächlich eine Frau. Schließlich müsste es mit etwas Anstrengung auch gelingen, einen Fettleibigen durch kognitive und geistige Anstrengung in ein Supermodell zu verwandeln. All das wird heutzutage versucht, wobei leider erste Rückschläge zu verzeichnen sind. Denn beim radikalen Konstruktivismus gibt es ein kleines Problem, das an dieser Stelle nicht verschwiegen werden kann. Eigentlich müsste er, wenn alles eine Konstruktion wäre, selbst auch eine sein. Anders gesagt: Zu behaupten, alles wäre eine Konstruktion, ist selbst eine Konstruktion und kann daher nicht als Begründung dafür herhalten, alles zur Konstruktion zu erklären. Wenn das so ist, wäre es nicht vernünftiger davon auszugehen, dass es die Menschen schon mit gewissen Realitäten zu tun haben. Könnte es daher nicht sein, dass geistig behinderte Kinder nicht besser dran sind, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern in eine Klasse gehen, um an ihrem Nichtbehindertsein zu arbeiten? Und könnte es nicht sein, dass ein Mann immer noch eine Frau ist, selbst wenn er einen BH trägt und fest davon überzeugt ist, eine Frau zu sein. Schließlich wäre durchaus zu fragen, ob ein Mann mit 150 Kilo nur als Übergewichtiger konstruiert worden ist oder einfach sehr ungesund lebt, weil Mensch einfach nicht für so ein Gewicht ausgelegt sind. Ein Witz über den radikalen Konstruktivismus geht so: Ein Arktisforscher, der zu erfrieren droht, wird in letzter Minute von einer Expedition gerettet: Zu den Teilnehmer des Rettungsteams spricht er dankbar: So ein Glück, dass ich sie gerade erfunden habe, um mich zu retten. Es ist eine Anekdote über uns, die wir glauben, es käme nur auf uns an, während uns in Wirklichkeit geholfen werden muss. Es ist ein Witz über unsere Zeit, zu der der radikale Konstruktivismus gut passt. Denn in der Tat glauben heute viele, alles wäre möglich, wenn man nur richtig konstruiert. Wie man seine Konstruktionen vom Irrsein abgrenzen will, müsste allerdings noch erforscht werden.

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Optische Täuschung

Es gibt da ein Phänomen, für das ich kein rechtes Wort kenne, welches aber weit verbreitet ist. Ich würde es versuchsweise als emotionale Disproportionalität bezeichnen. So eine emotionale Unverhältnismäßigkeit findet man häufig dann, wenn großes Unrecht eher kaum beachtet wird, jedoch an anderer Stelle in kleinerer Form ganz Gesellschaften erschüttert. So ist es beispielsweise bemerkenswert, dass der Tod von Georg Floyd durch das massive Fehlverhalten der US-amerikanischen Polizei so ein großes Echo fand – auch in Deutschland – obwohl Floyd kein Deutscher ist, kriminell war und eigentlich keine Besonderheit aufwies, außer schwarz zu sein. Der massenhafte Tod in Syrien dagegen, scheint hierzulande kaum jemand seelisch aufzuwühlen.

Was könnten die Gründe sein? Zum einen ist es sicher nicht unbeachtlich, dass der Tod des Schwarzen gefilmt wurde. So wurde für alle sichtbar, welche Ungeheuerlichkeit dort geschah. Denn es ist in der Tat furchtbar zu sehen, wie ein Mann erstickt wird, der um sein Leben bettelt. Dazu kam die Erzählung von dem Fass, das übergelaufen ist. Das Narrativ geht so: In den USA sterben täglich Schwarze durch weiße Polizei, weil es Rassismus gibt. Dieser Tote war nun der eine Tote zu viel. Und wie es immer so mit Narrativen ist, sie sind fest in unseren Köpfen verankert, obwohl sie nur lose mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Laut der Website von Statista sterben seit 2015 35 Schwarze auf eine Millionen Einwohner durch die Polizei. Bei Weißen liegt die Zahl bei 14. Allerdings gehen dreimal mehr Schwarze pro eine Million Einwohner ins Gefängnis als Weiße. Natürlich kann man diskutieren, welche Gründe es für diese Ungleichheit gibt. Aber was man deutlich sieht: Schwarze kommen häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Ist es da überraschend, dass sie auch häufiger erschossen werden? Seit Jahren gibt es übrigens mehr Schwarze in der Polizei, aber nicht weniger Gewalt gegen Schwarze. Spricht das für massiven Rassismus? Eher dafür, dass es in den USA eine grundsätzliche Härte bei der Polizei gibt. Das soll nicht heißen, dass die Polizeikräfte in den USA keinen Rassismus kennen. Doch George Floyd ist wohl in erster Linie deshalb gestorben, weil sich die Polizei in den USA seit den 80igern stark brutalisiert hat.

Doch was noch viel bemerkenswerter ist: Andere Formen von Ungerechtigkeiten können offensichtlich mit der Gewalt im Falle von Georg Floyd nicht mithalten, obwohl diese nicht unwesentlich sind. Zum Beispiel der Syrienkrieg. Im Jahre 2018 kamen in Berlin 100 Leute zusammen, um gegen den Syrienkrieg zu demonstrieren. Bei der BLM-Demo Black waren es zwei Jahre später 2000. In Syrien werden durch russische Piloten Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen bombardiert mit unfassbaren Folgen. Was könnte nun erklären, warum manche wegen George Floyds so wütend sind, aber im Falle des tausendfachen Todes in Syrien eher mit den Schultern zucken.

Nun die Lager für Uiguren in China, die Kriegsopfer in Syrien und die Kinderarbeit in Pakistan kommen einfach auf der Empörungsskala nicht an den Tod von Georg Floyd heran, weil die Menschen nicht perfekt sind. So wie sie wegen eines organischen „Konstruktionsfehlers“ leicht optischen Täuschungen unterliegen, so unterliegen sie auch moralischen Täuschungen und können die Proportionen nicht erkennen. Bei Moral und Empörungen kommt es außerdem sehr stark auf Moden und Strömungen an, nicht auf das Leid, das erfahren wird. Und zurzeit ist eben Rassismus in aller Munde. Man sollte wissen, dass man seiner Moral genauso wenig trauen darf wie seiner Erinnerung oder seinen Augen. Denn Moral braucht eine Geschichte, um uns zu empören. Die von dem Tod durch Rassismus einfach eingängiger als die von dem hundertfachen Tod in Syrien durch russische Jets. Und schließlich gibt es noch den Kieseleffekt: Man versucht sich als Mensch lieber an einem kleinen Stein als an einem Felsen, den man eh nicht heben kann. Wenn man dann den Kiesel in der Hand hält, glaubt man, ein Herkules zu sein. Black Lives Matter wäre der Kiesel, der leichter zu heben ist. Und so bleibt am Ende mit Stalin, einem Menschenkenner erster Güte, nur festzustellen: “Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur Statistik.” Klingt komisch, ist aber so.

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Strafgesetze identitätspolitisch gedreht

In New York, der Stadt, die bekanntlich niemals schläft, ist man auch identitätspolitisch hellwach. So wurde laut Zeitungsberichten Cannabis legalisiert unter anderem mit der Begründung, dass Schwarze häufiger für Marihuana-Delikte verhaftet werden als Weiße, und das, obwohl Weiße und Schwarze pro Kopf ähnlich viel von dem Zeug konsumieren. Mal abgesehen von der Frage, ob es sinnvoll ist, den Cannabis-Konsum zu bestrafen, diese Denke ist irgendwie schräg. Was wäre zum Beispiel, fände man heraus, dass pro Kopf Weiße so viel Morde begehen wie Schwarze, aber mehr Schwarze dafür im Knast landeten? Wäre das der Grund, den Mordparagraphen abzuschaffen? Wohl kaum. Jeder ist vor dem Gesetz gleich, heißt es. Dass dies nicht immer stimmt, ist richtig. Das spricht aber nicht gegen das Prinzip. Eher dafür, noch besser darauf zu achten, dass die Polizei und die Gerichte den Grundsatz achten. Anders gesagt: Dass Gesetze nicht immer perfekt angewandt werden, heißt nicht, dass das die Gesetze schlecht sind. Es heißt, dass die Welt nicht perfekt ist. Daran zu arbeiten, sie in dieser oder jener Hinsicht besser zu machen, wäre, auch wenn es niemals eine perfekte Welt geben wird, ein vernünftigeres Ziel.  

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Jedem seine Geschichte!

Der Philosoph, Jean-Francois Lyotard, hat die Postmoderne so definiert: Sie sei das Ende der einen großen Erzählungen zugunsten der vielen kleinen. Was aber ist nun eine große Erzählung? Es handelt sich dabei um eine sinnstiftende Geschichte, die der Gesellschaft hilft, Gemeinsamkeit herzustellen. Dem Einzelnen hilft sie, die Welt zu bewältigen und sich zurechtzufinden. Eine der ganz großen Geschichten, von der Lyotard in diesem Zusammenhang spricht, ist die Aufklärung. Bei der geht es um Fortschritt, Befreiung und Individualisierung. Mit der Postmoderne sei nun diese Geschichte auserzählt. Wenn das so ist, dann wäre zu fragen, welche von den kleineren neuen Geschichten denn so uns passt, wenn das Buch der Aufklärung zugeschlagen ist. Wie wäre es denn mit einer Revitalisierung der guten alten Opfergeschichte? Sie geht hierzulande so: Die Deutschen werden von Migranten versklavt, für die sie jetzt schuften müssen, während diese in der sozialen Hängematte liegen. Außerdem eignen sich Migranten einfach deutsche Kultur an. So spielen sie zum Beispiel im Tatort mit, was ungefähr das Heiligste ist, was das deutsche Fernsehen zu bieten hat. Einige von ihnen kleiden sich statt mit Palmenblättern mit Hugo-Boss-Anzügen. Schließlich maßen sich die Menschen mit Migrationshintergrund an, über deutsche Geschichte und Kultur zu sprechen, obwohl das eigentlich nur Deutschen zusteht. Die Opfergeschichte kommt ihnen bekannt vor? Klar, das ist die Geschichte der Identity-Policy-Aktivisten. Allerdings unter anderem Vorzeichen. Und sie ist so verführerisch, weil man als Opfer nicht nur schuldlos erscheint, sondern auch seiner tiefsitzenden Aggressivität freien Lauf lassen kann. Für mich ist diese Opfergeschichte allerdings nichts. Denn mit so einer Erzählung bekommt man nur einen schlechten Charakter. Warum? Nun, nichts ist widerlicher als rumzujammern, weil man mal als schief angesehen worden ist oder gefragt wurde, woher man kommt. Und nichts ist schlimmer, als sich dann seinem aus dem Opferstatus gespeisten Hass hinzugeben. Ich persönlich bevorzuge deshalb die Geschichte von der Skepsis. Die geht so: Jeder Geschichte hat einen blinden Fleck. Und den gilt es zu entdecken, damit man sich nicht am Ende einer Geschichte ausliefern muss. Das gilt auch für die Aufklärung. Und wie jedes Narrativ ist diese Geschichte der Skepsis nicht wahr im Sinne von true. Vielmehr hilft die Geschichte mir zurechtzukommen in einer Welt, in der es immer mehr Menschen gibt, die sich ihren Opfergeschichten hingeben und damit den wahren Opfern Hohn sprechen.

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