Opfergeschichte

Der Philosoph Rudolf Burger weist darauf hin, dass wir unserem christlich-jüdischen Erbe verpflichtet sind. Das bestehe insbesondere darin, festzustellen, dass etwas schlimm im Argen liegt. Da helfe nur die Hoffnung. Nun sind wir zwar jetzt oft ohne Glauben an Gott. Wir glauben allerdings immer noch, dass etwas grundsätzlich mit der Welt nicht stimme. Allerdings: Wenn etwas mit der Welt nicht stimmt, dann muss man, wenn das Jenseits nicht mehr zur Verfügung steht, die Hoffnung auf etwas anderes setzen als Gott, damit eine Heilsgeschichte erzählt weiter erzählt werden kann. Das Heil wurde deshalb bald in der Geschichte selbst verortet: Die nicht perfekte Welt entwickelte sich nun nach den Gesetzen der Geschichte oder der Dialektik in die richtige Richtung. Durch Aufklärung und Wissenschaft sei unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Nun ist es mittlerweile so, dass auch diese Geschichte keiner mehr so recht glauben mag. Irgendwie ist sie, wie man so schön sagt, auserzählt. Weil wir aber Geschichten brauchen, kursieren nun andere Narrative, die nicht mehr von Fortschritt sprechen. En vogue sind jetzt Opfergeschichten. Und in der Tat gibt es seit den 60igern immer neue Erzähler, die nun ihre Opfernarrative an den Mann und die Frau bringen. Die Geschichte ist dabei meist schnell erzählt: Unterdrückung allenthalben und Qual, bis heute. Es ist ein Jammer. Und so ist es wenig überraschend, dass auch einige weiße Ostdeutsche anfangen, das Opferlied zu singen, was dann die AfD gerne aufgreift. Oder umgekehrt. Sie sind erzähltechnisch in derselben Geschichte wie Frauen oder Schwule, ohne allerdings dieselbe Bewertung für ihr “Leid” zu bekommen. Denn es gibt natürlich auch eine Opfer-Hierarchie. Daher ist die Story von der üblen Lage des Ossis aus Bautzen eher nicht auf der Bestsellerliste. Erlösung ist bei diesen Geschichten übrigens nicht zu erwarten. Die Opfergeschichten sind von der Erzählstruktur nämlich wie moderne Einakter. Das Ende ähnelt dem Anfang. Wenn man so will, dann gilt d er Märchensatz auch hier: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute. Und leiden und leiden und leiden. Wenn der Mensch mythenpflichtig ist, dann ist der Opfermythos sicher nicht unbedingt die produktivste Geschichte. Denn so wie Tantalus durstet man offensichtlich ständig nach mehr, ohne jemals den Durst stillen zu können. Wer einmal Opfer ist, der wird von diesem Status wohl dennoch nicht mehr lassen. Denn unsere Gesellschaft belohnt diejenigen, die leiden, im Gegensatz zur Antike gerne mit Aufmerksamkeit und Sympathie. Wir sind geradezu verliebt in die Opfer. Die Frage, warum dies so ist, ist aus meiner Sicht, der Schlüssel zum Verständnis dieser postmodernen Gesellschaft. Christian Kümpel Bild: Pixabay