Werteopportunismus

Werte sind konstituierend für Kulturen. Solche können sexuelle Freiheit sein. Aber auch die Tradition hat seinen Wert. Meist werden die einzelnen Werte, zumindest dann, wenn die Kultur überleben möchte, nicht ganz so hoch gehängt. Man muss sie irgendwie miteinander abgleichen. Im Zweifelsfall muss auch mal geheuchelt werden, damit es nicht zum Knatsch kommt. Unangenehm wird es aber meist dann, wenn Werte absolut gesetzt werden. Dann gibt es Krach. Zumindest dann, wenn der Schwächere nicht nachgibt. Nun gab es wieder ein schönes Beispiel für diese These, als Disney es akzeptierte, dass sein Film im Orient zensiert worden ist. Es geht um den Streifen”Lightyear”.

Ein fast absoluter Wert in der westlichen Gesellschaft: Lesben und Schwule dürfen sich nicht nur küssen, sie müssen es auch in der Öffentlichkeit tun dürfen und das muss auch in Filmen gezeigt werden, und zwar ständig. Wie könnte man so einen Wert nennen? Sexuelle Toleranz ist da nämlich zu wenig gesagt.

In muslimischen Ländern hält man nichts davon. Dort gilt die Überllieferung als wichtiger Wert. Dazu gehört das traditionelle Verständnis von Sexualität. Nur Männer küssen Frauen. Basta. Lesbenküsse gehören nicht zum Kulturinventar. Deshalb lehnt man dort die Kussszene in dem Kinderfilm aus dem Hause Disney ab. Nun ist es bekanntlich so, dass der aufgeklärte Westen seine Werte für allgemeinverbindlich erklärt. Diese seien sozusagen weltumspannend. Deshalb ist man im Westen empört. Aber natürlich nicht so empört, wie wenn im Westen Mohammed-Karikaturen gezeigt werden. Dann tobt der Orient. Und hier im Westen kommt man ins Schwitzen. Dass nun die Schwulen und Lesben und Woken hierzulande ausrasten, so wie man das im Süden immer dann tut, wenn der Prophet in ein schlechtes Licht gerückt wird, ist nicht überliefert. Da kann man nur sagen: Sehr vernünftig. Denn man legt sich nicht mit Stärkeren an.

Die Erregung im Westen richtet sich eben nicht gegen einen mächtigen Feind der neuen westlichen Sexualmoral. So wie ein Beutejäger sich nicht an einem anderen stärkeren Beutejäger vergreift, verhält man sich auch hier streng opportunistisch. Man fängt nur an zu knurren, wenn es gegen die geschwächten alten konservativen Tiere im eigenen Revier geht. Die kuschen dann auch meist, wie man neulich in der Welt lesen dürfte. Mit den Muslimen läuft das nicht.

Der höchste Wert im Westen ist vermutlich doch der, nicht auf die Nase zu kriegen. Den Konservativen, die ja auch für Tradition sind, schulden wir hier Dankbarkeit. Denn wie man sieht, kriegt man seine Werte nur dann durchgedrücken, wenn man auch die nötigen Machtmittel hat. Ansonsten muss man sich eben fügen, um schwere Konflikte zu vermeiden. Merke: Am Ende ist es besser, keinen Streit zu riskieren, den man sowieso nicht gewinnen kann. Das gilt für die Linken wie für die Rechten.

Christian Kümpel

Storytelling

Der Philosoph Rudolf Burger weist darauf hin, dass wir unserem christlich-jüdischen Erbe verpflichtet sind. Das besteht insbesondere darin, festzustellen, dass etwas im Argen liegt, und zwar grundsätzlich. Die Welt ist für Christen und Juden schlecht. Da half nur die Hoffnung auf bessere Zeiten.

Nun sind wir zwar jetzt als Nicht-Christen oft ohne Glauben auf ein Leben nach dem Tod, wo alle Ungerechtigkeit in Gerechtigkeit umschlägt. Wir glauben allerdings immer noch, dass etwas im Argen läge. Allerdings wenn etwas mit der Welt nicht stimmt, dann muss man, wenn das Jenseits nicht mehr zur Verfügung steht, um Verbesserung herzustellen, die Hoffnung auf etwas anderes setzen als Gott, damit eine Heilsgeschichte erzählt werden kann.

Das Heil wurde deshalb konsequenterweise innerweltlich. Die Welt-Geschichte wurde entsprechend zu einer Heilsgeschichte umgedeutet. Die Story ging darauf eine Weile so: Die Welt ist nicht perfekt. Aber sie entwickelt sich nach den Gesetzen der Geschichte oder der Dialektik in die richtige Richtung. Durch Aufklärung und Wissenschaft erreichen wir gemeinsam unser Ziel.

Aber auch diese Geschichte mag keiner mehr so recht glauben. Irgendwie ist sie, wie man so schön sagt, auserzählt. Weil wir aber Geschichten brauchen, kursieren nun andere Narrative, vor allem welche, die nicht mehr von Fortschritt sprechen. En vogue sind jetzt Opfergeschichten. Und in der Tat gibt es seit den 60iger immer neue Gruppen, die nun ihre Narrative an den Mann bringen. Die Geschichte ist dabei meist auch schnell erzählt: Es war alles Unterdrückung und Qual. Und daran hat sich nichts geändert. Erlösung kommt dabei nicht vor.

Früher hätte man sich das vermutlich verkniffen, so zu erzählen. Happy Ending, das war einmal ein Muss. Nun ist die Geschichte des Fortschritt der Menschheit einer öden Leidensgeschichte gewichen.

Erlösung ist in diesen Geschichten, wie gesagt, nicht zu erwarten. Denn die Opfergeschichten sind von der Erzählstruktur wie moderne Einakter. Das Ende ähnelt dem Anfang. Wenn man so will, dann gilt der Satz: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute. Allerdings steht fest: Wenn der Mensch unbedingt Geschichten braucht, dann ist die Opfergeschichte sicher die unproduktivste. Denn so wie bei der Geschichte von Tantalus, der im Wasser steht, durstet man nach mehr, ohne jemals den Durst stillen zu können. Denn wer einmal sein Opfernarrativ gesungen hat, der wird von dieser Geschichte nicht mehr lassen. Sie ist einfach zu verführererisch.

Bei den Christen sind es die Unterdrückten, die in den Himmel kommen. Heute will man als postmoderner Mensch aber nur noch unterdrückt sein, ohne Aussicht auf Erlösung. So erzählen eigentlich nur Masochisten. Im Masochismus liegt ja auch, wie wir wissen, ein ganz besonderer Reiz. Ist er am Ende das Geheimnis der Postmoderne?

Christian Kümpel

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Opfergeschichte

Der Philosoph Rudolf Burger weist darauf hin, dass wir unserem christlich-jüdischen Erbe verpflichtet sind. Das bestehe insbesondere darin, festzustellen, dass etwas schlimm im Argen liegt. Da helfe nur die Hoffnung. Nun sind wir zwar jetzt oft ohne Glauben an Gott. Wir glauben allerdings immer noch, dass etwas grundsätzlich mit der Welt nicht stimme. Allerdings: Wenn etwas mit der Welt nicht stimmt, dann muss man, wenn das Jenseits nicht mehr zur Verfügung steht, die Hoffnung auf etwas anderes setzen als Gott, damit eine Heilsgeschichte erzählt weiter erzählt werden kann. Das Heil wurde deshalb bald in der Geschichte selbst verortet: Die nicht perfekte Welt entwickelte sich nun nach den Gesetzen der Geschichte oder der Dialektik in die richtige Richtung. Durch Aufklärung und Wissenschaft sei unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Nun ist es mittlerweile so, dass auch diese Geschichte keiner mehr so recht glauben mag. Irgendwie ist sie, wie man so schön sagt, auserzählt. Weil wir aber Geschichten brauchen, kursieren nun andere Narrative, die nicht mehr von Fortschritt sprechen. En vogue sind jetzt Opfergeschichten. Und in der Tat gibt es seit den 60igern immer neue Erzähler, die nun ihre Opfernarrative an den Mann und die Frau bringen. Die Geschichte ist dabei meist schnell erzählt: Unterdrückung allenthalben und Qual, bis heute. Es ist ein Jammer. Und so ist es wenig überraschend, dass auch einige weiße Ostdeutsche anfangen, das Opferlied zu singen, was dann die AfD gerne aufgreift. Oder umgekehrt. Sie sind erzähltechnisch in derselben Geschichte wie Frauen oder Schwule, ohne allerdings dieselbe Bewertung für ihr “Leid” zu bekommen. Denn es gibt natürlich auch eine Opfer-Hierarchie. Daher ist die Story von der üblen Lage des Ossis aus Bautzen eher nicht auf der Bestsellerliste. Erlösung ist bei diesen Geschichten übrigens nicht zu erwarten. Die Opfergeschichten sind von der Erzählstruktur nämlich wie moderne Einakter. Das Ende ähnelt dem Anfang. Wenn man so will, dann gilt d er Märchensatz auch hier: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leiden sie noch heute. Und leiden und leiden und leiden. Wenn der Mensch mythenpflichtig ist, dann ist der Opfermythos sicher nicht unbedingt die produktivste Geschichte. Denn so wie Tantalus durstet man offensichtlich ständig nach mehr, ohne jemals den Durst stillen zu können. Wer einmal Opfer ist, der wird von diesem Status wohl dennoch nicht mehr lassen. Denn unsere Gesellschaft belohnt diejenigen, die leiden, im Gegensatz zur Antike gerne mit Aufmerksamkeit und Sympathie. Wir sind geradezu verliebt in die Opfer. Die Frage, warum dies so ist, ist aus meiner Sicht, der Schlüssel zum Verständnis dieser postmodernen Gesellschaft. Christian Kümpel Bild: Pixabay

Verbitterungssyndrom

Menschen reagieren unterschiedlich auf einschneidende Veränderungen, die als negativ empfunden werden. Die einen ignorieren sie, andere passen sich an. Manche verbittern. Verbitterung ist eine Mischung aus Frustration und Zorn. Dieses Gefühl kann zum Beispiel eintreten, wenn man als fleißiger Mitarbeiter nicht gewürdigt wird. Oder wenn man von seinem Lebensgefährten immer nur hört, wie unfähig man sei.

Ich vermute aber, dass man besonders verbittert, wenn man zusehen muss, wie die eigene Welt verschwindet, ohne dass man ohne etwas tun kann. Und das Gefühl setzt auch ein, wenn man ständig zu hören kriegt, das eigene Land sei homophob, rassistisch und frauenfeindlich. Also irgendwie schlimmer als Afghanistan, Nordkorea und das Dritte Reich zusammen. Man kriegt dann geradezu einen Ekel vor dem eigenen Land, wenn man so etwas ständig hört. Wie einen ja auch Menschen anwidern, die sich ständig selber schlecht machen.

Doch bleiben wir bei der Verbitterung. Dazu gehört, wie gesagt, unbedingt das permanente Gefühl von Ohnmacht. Die eigene Machtlosigkeit wird einem ständig vor Augen geführt und noch greifbarer, wenn man erfährt, dass die wichtigen Entscheidungen nicht im Parlament, sondern irgendwo in der EU, bei der EZB oder bei NGOs, also bei nebulösen Mächten liegt, von denen man nicht das Gefühl hat, man habe auch nur den geringsten Einfluss aus sie. „Mich hat niemand gefragt, als 2015 Millionen ins Land gelassen wurden.“ Das ist so ein Satz. Und man sollte sich da auch keine Illusionen machen: Auch in Zukunft wird man kaum gefragt werden, wenn es um wichtige Dinge geht. Und selbst wenn, interessiert die Antwort nicht.

Was macht nun der ob all dieser Phänomene verbitterte? Er bestraft seine Umwelt, indem er seine Verbitterung oder Wut zur Schau stellt. Er nervt irgendwann selber, weil er selbst genervt wird. Seine Gedanken kreisen nur noch um die eigene Hilflosigkeit und die Frustration. Und er macht das zum Dauerthema. Schließlich sucht er schon fast krampfhaft nach Anlässen, seiner Verbitterung weiteres Futter zu geben. Es ist, als ob die Verbitterung immer neue Nahrung bräuchte. Unglück wird so zur Dauerschleife.

Doch was kann man wirklich tun, wenn man nichts tun kann? Die Antwort könnte lauten: Wer wenig Gepäck mit sich herumschleppt, der verbittert nicht so schnell. Wem das Land, die Gesellschaft und auch die EU egal sind, der muss sich nicht aufregen, wenn Mächte jenseits seiner Einwirkungsmöglichkeiten wüten. Sie sind wie die Sonne und der Regen, die man ja auch nicht stoppen kann. Was macht es dann schon, wenn nun Jugendlichen ihre vermeintliche Transsexualität entdecken und manche behaupten, nur eine gendergerechte Sprache könne die Welt retten? Was geht mich der Irrsinn der Welt an, könnte man fragen. Die Welt ist schon öfter mit bizarren Figuren aufgetreten. Das gehört einfach dazu. Wichtig ist nur, dass man sich das nicht zu Herzen nimmt. Man wird so Beobachter und gewinnt Abstand. Von der eigenen Verbitterung haben nur diejenigen etwas, die uns verbittern lassen wollen. Und das sind sicher nicht wenige. Wem es gelingt, hier die Balance wiederzufinden, der hat den Narren schon ein Schnippchen geschlagen. Das ist in diesen Zeiten keine kleine Leistung.

Christian Kümpel

Misstrauen ist angesagt

Tja, jetzt hat es auch die Linke erwischt. Nach allem was bekannt geworden ist, hat ein Mitarbeiter der Landtagsfraktion der Linken in Hessen ein Verhältnis mit einer Minderjährigen gehabt. Der Mitarbeiter sei der Partner von der Landesvorsitzenden Janine Wissler gewesen, liest man. Nun steht im Raum, dass Wissner ihren Partner geschützt habe. So viel zum Thema Solidarität unter Linken.

Und natürlich fiel dann nach dem Bericht weiteren Betroffenen ein, dass auch sie Opfer sind. Die Vorsitzende des linken Jugendverbands Solid, Sarah Dubiel, meinte nach Angabe der TAZ, sie kenne keine Genossin, die noch nie sexistisch angegangen worden sei. Da tut sich ein weiterer Sumpf auf. Vermutlich allerdings nur in der Phantasie der Me-Too-Fans.

Während man in den promiskuitiven Siebzigern vermutlich sexuelle Belästigung irgendwie anders eingeordnet hat, hat sich mittlerweile eine gewisse Übersensibilität breit gemacht. Die taffe Frau, die sich zur Wehr setzen kann, ist dem Bild des Opfers mit Opfer-Abo gewichen. Bei Harvey Weinstein, dem Produzenten, seien massenhaft Frauen Opfer seines Triebes geworden, hört man. Vielen fiel das aber erst auf, nachdem sie auch mithilfe von Weinstein Filmkarriere gemacht hatten. So viel zum Thema Solidarität unter Frauen und Timing.

Dank des medial-technischen Komplexes erfährt heute schnell die ganze Welt, dass man einer Frau die Hand auf die Knie gelegt hat, ohne dass sie darum bat. Zumindest dann, wenn die Frau ein Twitter-Account unterhält. Weil das so ist, muss man in der Tat schon ziemlich unter Kontrollverlust leiden, wenn man da noch was probiert. Und da ist das ja auch das Risiko, dass man beschuldigt wird, ohne wirklich was wirklich Schlimmes getan zu haben. Manchmal muss man auch gar nichts tun, um fertiggemacht zu werden.

Hier sei noch mal erinnert an die unbegründeten Vergewaltigungsvorwürfe gegen Männer, die in der Vergangenheit zu hohen Haftstrafen führen. Horst Arnold ist da nur ein Beispiel. Der Mann wurde von einer lügenhaften Frau ruiniert, indem sie ihn der Vergewaltigung bezichtigte. Der Richter glaubte der Frau, obwohl ihre Geschichte absurd war. So kann es gehen.

Sexuellen Missbrauch wird es immer geben. Auch den, durch Reize zu manipulieren. Der Versuchung, sexuellen Missbrauch vorzutäuschen, um sich zu rächen oder Vorteile daraus zu ziehen, wird man weiterhin erliegen. Allerdings hat sich die Kommunikation verändert. In der Folge werden Männer misstrauischer sein müssen, auch sich selbst gegenüber. Aber vor allem gegenüber den Frauen. Man kann allen nur raten: Lasst immer eine Kamera laufen und verabredet euch nicht zu zweit. Damit es später nicht heißt: Meeee Toooo!

Christian Kümpel

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Ist das Geschlecht irrelevant geworden?

Stefan Hirschauer (Soziologe) durfte jüngst in der FAZ seine Thesen über eine komplette Seite ausbreiten. Man kann sie, ohne Hirschauer zu nahe zu treten, auf einen Satz reduzieren: So wie die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt – stimmt das denn? – , so ist auch das Geschlecht irrelevant geworden. Überhaupt nähmen wir den anderen meist ja nicht als Mann oder Frau wahr. Also lassen wir es einfach ganz, Menschen in eine geschlechtliche Schublade zu stecken. Und dann natürlich noch das Argument des Konstruktivismus. Wenn Mann oder Frau nur ein Konstrukt sind, ist es natürlich auch Transgender. Alles deshalb irgendwie nur ausgedacht. Es gibt uns alle eben nur als Idee.

Sehr vielsagend ist auch, dass Hirschauer meint, dass man auf Distinktionsgewinne durch Transgender verzichten könnte, wenn man aufhört, sich über das Geschlecht zu definieren. Da ist vermutlich was dran. Denn die meisten transgendern vermutlich, damit sie sich ein Profil zulegen, das irgendwie dem Individualisierungszwang entspricht. Am Ende soll man nach Hirschauer dennoch so weise sein, Männer mit Brüsten (vermutlich sind keine Männerbusen gemeint, die vom Bier trinken stammen), die noch Wert auf Geschlechtlichkeit legen, in ihrer Vorstellung anerkennen. Soll heißen, es gibt sie alle nicht wirklich, aber wir sind so herablassend oder verständnisvoll – je nach Lesart – und tun mal so, als ob ihre Konstruktion gültig wäre.

Allerdings scheint es so, als ob gerade Frauen sich nicht so gerne auf die Idee der Irrelevanz des Geschlechts einlassen wollen. Immerhin hätten sie eine Menge zu verlieren. Nachdem seit circa 150 Jahren Frauen nun politisch, sozial und ökonomisch mehr Bedeutung erlangt haben, werden sie vermutlich zäh daran festhalten, dass es doch Männer und Frauen gibt. Männer dagegen könnten mit der Idee wieder die Oberhand gewinnen. Denn wenn es keine Frauen mehr gibt, dann gibt es auch keine Geschlechterpolitik mehr im Sport, in der Politik und in der Wissenschaft. Quoten hätten sich erledigt. Schutzräume für Frauen auch. Es würde mich nicht überraschen, wenn sich deshalb bald immer mehr Männer sich dieser Idee anschließen, um ihre Macht zurückzuerobern. Denn wenn es nur noch Menschen gibt, dann brauchen wir keine Rücksichten mehr zu nehmen. An der Stelle sei daran erinnert, dass das Wort Mensch von Mann kommt. Darf man deshalb fragen, ob da jemand aus durchsichtigem Interesse rationalisiert und das Wissenschaft nennt?

Doch am Ende der wirklich wichtige Punkt: Besteht überhaupt Aussicht auf den Untergang der Geschlechter? Wird es in absehrbarer Zeit nur noch das Mensch geben, wie es ja auch nur den Einzeller gibt. In überspannten Endzeitkulturen wie der Deutschen wäre es durchaus möglich. Gesellschaften die jedoch auf Reproduktion Wert legen, werden vermutlich andere soziale Konstruktionen bevorzugen. Vermutlich solche, die ihrer Kultur das Überleben sichern. Dazu gehört die Zweigeschlechtlichkeit. Denn Sex und Gender haben, auch wenn manche es nicht glauben wollen, etwas miteinander zu tun. Darum wird es am Ende eher gehen als um hypertrophe Individualisierung oder akademische Versuche, die Geschlechter abzuschaffen. Aber netter Versuch, Herr Hirschauer.

Christian Kümpel

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Haltlos

Was ist eigentlich ein Reaktionär? Das ist ein Mensch, der zu Recht oder zu Unrecht behauptet, dass es eine gottgewollte Ordnung gibt, die man nicht straflos säkularisiert. Zu dieser Ordnung sollte man zurück, wenn es nach dem Reaktionär geht. Doch das ist unwahrscheinlich. Denn aus der gottgewollten Ordnung sind wir schon lange ins Unbekannte aufgebrochen. Und wo es keine numinose Ordnung mehr gibt, da müssen die Menschen selbst eine Ordnung errichten. Ob sie wollen oder nicht. Gelingt das?

Seit Jahren wechseln die Moden und der Zeitgeist wandelt sich stetig. Bei jedem Halt wird behauptet: Das ist jetzt die Wahrheit, wir haben das Ziel erreicht. Doch schon geht die Fahrt weiter. Das einzig Beständige dabei, das ist die Veränderung, wie man so schön sagt. Manche kommen da unter die Züge. Andere meinen, die Veränderung ist der neue Gott. Sie lechzen geradezu danach. Man könnte also sagen: Halt gibt es nicht mehr. Dennoch man braucht doch so etwas wie ein Maßstab, eine Orientierung.

Was so etwas wie Beständigkeit vorgaukelt, das ist die Moral. Sie soll Halt geben in einer haltlosen Zeit. Sie ist, wenn man Dr. Alexander Grau glauben darf, die letzte Bastion der Ungläubigen. Daran klammert man sich, damit man nicht vollkommen durchdreht. Und ihr Glaubensbekenntnis ist die Empörung. Wer sich empört, würde Zeugnis ablegen für seine Sache. Das ist eben die Funktion der Hypermoral, wie Grau sie nach Arnold Gehlen nennt. Sie ist an die Stelle der Religion getreten. Und wie die Religion entlastet sie uns vom Nachdenken. Allerdings, so möchte man hinzufügen, wird die Moral uns nicht erlösen, sondern verstricken, wenn sie sich verselbständigt. Und es gibt nicht nur eine davon, sondern viele. So empört man sich links und rechts und in der Mitte dauerhaft und ständig, um seiner neuen Religion zu frönen und so etwas wie das Unverrückbare vorzugauckeln. Manche würden sagen, dass ist eben der moralische Fortschritt. Ich habe eher den Eindruck, dass ist eine Einbahnstraße ins Nirgendwo. Denn was gestern noch als moralisch galt, ist heute schon Tabu.

Jedenfalls passt die Identitätspolitik auf diese Form der Vergottung der Moral wie die Faust aufs Auge. Denn sie sorgt für Empörungspotential, die auf Dauer gestellt ist. Dicke Kinder, alte Frauen, schwarze Männer oder lesbische Politiker, wer kann da nicht alles gekränkt werden. Und täglich werden neue Minderheiten entdeckt. Dann noch die Quoten, die Bezahlung oder das Gendern. Alles empörend. Und natürlich können das auch die Rechtsradikalen. Man lausche nur den Zornesausbrüchen eines Höcke. Das Material geht einem einfach nicht aus, auch dank der Medien. Sie halten den Betrieb am Laufen. Das Beste daran: Jeder der sich empört, darf sich noch erhaben fühlen. Das kennt man ja auch aus der Religion, wenn es um den heiligen Zorn geht. Und wer sich empört, hat immer recht. Oder kann man etwa mit Empörten diskutieren? Genauso wenig wie mit religiösen Fanatikern.

Früher wollte man cool sein, analytisch. Das ist out. Jetzt wird man irgendwie verrückt. Die Reaktionäre hatten deshalb vermutlich recht, als sie warnten. Aber wie gesagt: Nun ist es zu spät. Jetzt bleibt nur noch die Hypermoral.

Christian Kümpel

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Die Weggucker

Also hat man nun doch erkannt: Russland ist kein freundlicher Flächenstaat, der ungerechtfertigterweise von der Nato bedroht wird. Vielmehr sieht man in aller Welt, dass Russland mit seinen Oligarchen, seiner Propaganda und seinem Gas die Welt überall zu unterwandern suchte. Dabei ist es ihm gelungen, sein Narrativ auch im Westen immer wieder fruchtbar zu machen. Wir erinnern uns nun mit Verwunderung an die Äußerungen der russischen Einflussagenten aus AfD, der Linken oder auch der SPD. Aber auch Angela Merkel hat kräftig mitgeholfen. Russland konnte das alles so erfolgreich tun, weil wir eben hier anitamerikanische Politik lieben und die Polen nicht ganz für voll nehmen. Freunde von starken Männern und Politikern, die glaubten, Entspannungspolitik heiße, man schaue einfach immer weg, wenn was Schlimmes passiert, tun ein Übriges.  

Dabei spielen natürlich auch viele von denjenigen, die nach Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind, eine unrühmliche Rolle. Gerne haben sie sich von Putins Propaganda vor den Karren spannen lassen. Was aus Russland kam, das war für sie die reine Wahrheit. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Sowjetunion von Lügen zusammengehalten wurde und Aussiedler dort verfolgt wurden. Ebenfalls verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Kreml-Nachfolger ein ehemaliger KGB-Agent war. Aber vielleicht auch doch nicht so besonders, wenn man sich daran erinnert, dass viele Russen ehrlich traurig waren, als Stalin tot war. Man liebt eben seine Verfolger, irgendwie.

Wie es scheint, ist mit dem Einfluss aber fürs Erste Schluss. Zumindest trauen sich die Putin-Versteher zurzeit nicht aus der Deckung. Putins Russland bekommt jetzt das Misstrauen, das es immer schon verdient hat. Doch wird man sich sicher noch ausführlich mit dem Thema beschäftigen: Wer hat es Putin hierzulande ermöglicht, seine Kriege zu führen? Warum wollte man die Zeichen nicht erkennen? Warum redet man sich Diktatoren schön? Diese Fragen müssen noch historisch aufgearbeitet werden. Darin sind wir doch angeblich so stark, in Aufarbeitung.

Das gilt ja auch immer noch für den Islam. Es ist bekannt, dass der Iran, Qatar, die Türkei und andere muslimische Staaten hier nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell Einfluss nehmen. Naiv ist, wer nun meint, die Türkei wolle dabei einen Dialog auf Augenhöhe, oder wie was der Phrasen noch so sind. Vielmehr nimmt man Einfluss auf die Türken die hier leben, um diesen Staat und diese Gesellschaft im Sinne des Islams zu beeinflussen. Glaubt dabei irgendwer jetzt noch, dass alle Muslime hier ganz anders als die Aussiedler fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen? Naiv, kann man dazu nur sagen. Aber eben typisch.

Egal, ob nun Islamkonferenz, Unterricht oder Parteienpolitik, über die Versuche, der islamischen Staaten, hier Einfluss zu nehmen, müsste jetzt auch offen gesprochen werden. Wird es passieren? Wohl kaum. Lieber wird man weitermachen mit den beliebten Sprüchen. Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit und rechte Gesinnung wird man den Skeptikern vorwerfen. Bis es irgendwann knallt. Doch sogar dann wird man weiter beschwichtigen, wie man ja auch nach der Krimbesetzung und dem Abschuss der KLM-Maschine immer noch Ausreden fand. Vermutlich ist es eben systemisch in diesem Lande, wegzusehen, solange es nur irgend geht. Denn wer hinsieht, der muss dann auch was machen.

Christian Kümpel

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Konstruierte Gemeinschaften

Was ist es, dass der Mensch braucht, so wie der Frosch das Wasser oder der Vogel die Luft? Er braucht die Gruppe. Anders gesagt: Er ist ein Stammestier. Der Stamm bietet Halt, Orientierung und Verbundenheit. Außerdem stiftet der Stamm Sinn und kennt Solidarität.

Doch was braucht der Stamm? Klar, er braucht ein Territorium. Das kann man neuerdings auch im Internet finden. Er braucht aber vor allem andere Stämme. Denn ein Stamm ist nur ein Stamm, wenn es andere Stämme gibt, so wie eine Spielkarte beim Skat nur deswegen eine bestimmte Funktion hat, weil eine andere eine andere hat. Man bezieht sich aufeinander durch Differenz. Ein Bube ist ohne die Dame bedeutungslos.

Vollkommen unnatürlich ist jedoch die Vorstellung, dass alle Menschen sich verbunden fühlten als Menschheit. Wer Menschheit sagt, will betrügen, meinte Carl Schmitt. Zumindest kann man feststellen, dass auch die größten Verfechter der Idee, dass es eine Menschheit gäbe, immer auch einem Stamm angehören, nämlich dem der Kosmopoliten. Wir und Ihr, dass ist das ewige Menschheitsgesetz. Deshalb kann man wohl von Menschen reden, die die Welt bevölkern. Aber dass die Menschheit nun wie ein großer Stamm wäre, dies kann mit guten Gründen bestritten werden. Denn es fehlte an dem Stammesgefühl, gäbe es nur einen Stamm. Und das brauchen wir halt.

Stämme im eigentlichen Sinne sind eigentlich nicht groß. Vielleicht so 150 – 200 Mann stark. Dass es spöter Nationen gibt, mutet da wie ein Wunder an. Denn hier handelt es sich um Verbände von Millionen, wenn nicht sogar von Milliarden Menschen. Benedict Anderson hat herausgearbeitet, welche Voraussetzungen es geben muss, damit Menschengruppen sich als Großstamm vulgo Nation konstruieren. Wichtig dabei ist vor allem: Nationszugehörigkeit für jeden, der einer Nation angehört, ist ein Gedanke, der von allen Mitgliedern einer Nation geglaubt werden muss. Das gilt allerdings auch für jede andere Großgruppe, zum Beispiel die Bayern-Fans.

Weil aber nun in einer globalisierten Welt die Nation ihre Bedeutung verliert, ist der Mensch offen für neue oder neu-alte Konstruktionen. Die Nachfrage wird gestillt, zum Beispiel durch die Identitätspolitik. Wer Halt sucht, wird es da was finden: „Du bist Schwarzer und gehörst zu den Schwarzen, weil du kein Weißer bist. Du bist eine Frau, weil Männer so sind, wie sie sind. So bist du aber nicht. Du bist Muslim. Und weil Du Muslim bist, gehörst Du zu einer auserwählten Gruppe.“ Solche Gruppenbildungen sind naheliegend, wenn Nationen verschwinden. Ganz wichtig dabei: Man gehört immer zu einer Gruppe, die anders und meist besser ist als andere und außerdem viktimisiert wird.

Das Konstruierte daran wird allerdings schon dann deutlich, wenn man sich mal ernsthaft fragt, was ein Schwarzer im Elend in Lagos mit einem Schwarzen in New York im Penthouse gemein hat. Oder wenn man ein Frauenleben in Somalia mit dem Leben einer Frau in Deutschland vergleicht. Egal! Die Konstruktion muss geglaubt werden, dann passt es schon.

Die Bildung von Nationen hat das Gruppendenken also nicht überwunden. Dieses Denken nimmt nur andere Formen an. Denn wenn sich Bayern und Brandenburger als eine Nation verbunden fühlen, warum nicht alle Frauen oder Schwarzen auf der Welt?

Allerdings bleiben manche Konstruktionen kurios. Wenn man glauben machen will, dass Schwule, Muslime und Schwarze eine Gruppe bilden, um gegen die Gruppe der WAMs zu bestehen, ist das eine Überdehnung. Das wird spätestens dann sichtbar, wenn man den weißen alten Mann wegdenkt. Dieses Konstrukt hat man eben noch nötig, um die offensichtliche Künstlichkeit einer Gruppenzugehörigkeit der Opfer des weißen Mannes zu überspielen. Wenn die WAMS nicht mehr sind, wird man vermutlich wieder die Unterschiede entdecken, wie man das immer schon getan hat.

Die Identitätspolitik ist also so gesehen ein Kind der Globalilsierung. Die Welt überspannende konstruierte Gruppen, die sich befehden, damit sie sich ihrer Identität vergewissern können. Da vermisst man vielleicht am Ende sogar die Konstruktion der Nation. Dort herrschte zumindest in Teilen Frieden innerhalb der nationalen Grenzen. Aber diese Konstruktion haben wir wohl endgültig hinter uns gelassen. Man sortiert sich nun neu.

Christian Kümpel

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Ist es jetzt vorbei?

Zurzeit spricht man nicht mehr von Held:innen, sondern von Helden. Männer, die in der Ukraine für die Freiheit kämpfen, werden nicht als toxisch oder sonst wie denunziert, sondern bewundert. Offen darf man darüber sprechen, dass Ukrainer eher zu Europa gehören als andere und deshalb gerne aufgenommen werden. Von LGBTQ in der Ukraine redet niemand. Das ganze Minderheitengedöns scheint jetzt niemand zu interessieren. Ist das die Wende?

Natürlich können Trends gebrochen werden. Der Zeitgeist ist eben ein Geist, der auch mal kurzzeitig verschwinden kann. Aber die unterliegenden Strömungen werden sicher nicht davon beeinflusst. Sobald der Krieg zu Ende ist, wird es mit Sicherheit an den Unis und in den Medien wieder losgehen. Die Bewusstseinsindustrie und ihre Ableger, die Werbebranche, werden genau dort weitermachen, wo sie aufgehört haben.

Was sind diese unterliegenden Strömungen? Es ist der Selbsthass des liberalen Westens. Sobald der Westen sich etabliert hat, traten seine Kritiker auf den Plan. Sie sind nämlich ein Teil des Westens selbst. Der Selbsthass ist sozusagen der Schatten dieser Zivilisation. Doch wie ist er zu erklären?

Odo Marquardt, der Philosoph der Skepsis, hat da eine interessante Idee anzubieten. Da es keinen Gott – diesen hat der Westen sozusagen gekillt – mehr gebe, den man anklagen könne, wird der Mensch als Schöpfer der Geschichte betrachtet, der für alle Übel verantwortlich sei. Dabei entsteht eine neue Herrschaftsform. Die säkuläre Priesterschaft schwingt sich zum Ankläger auf und bietet sich als Weltgewissen an. Ihre Kernbotschaft: Der Westen ist für alles Schlechte verantwortlich, den der Westen behauptet ja auch, man könne nun sein Schicksal selbst bestimmen.

Die Ironie dabei: Man entlastet die afrikanischen und arabischen Despoten, die Islamisten und in der Vergangenheit auch Putin. Doch zurzeit ist man auf Seiten der Priesterschaft etwas verwirrt, weil der Westen zumindest nicht mittelbar Schuld an dem Krieg in der Ukraine ist. Doch ich möchte fast wetten: Wenn der Krieg vorbei ist, dann wird die „Priesterkaste“ wieder ihr Haupt erheben. Denn dem Westen ist es eben immanent, sich selbst zu hassen, solange er keinen äußeren Feind hat. Es ist sozusagen, sein eingeschriebener Wahn, dass alles möglich ist und seine Verzweiflung darüber, dass dies nicht stimmt, treibt ihn in den Selbsthass, der heutzutage eben die Form der Identitätspolitik annimmt. Der Selbsthass ist im Grunde Ausfluss seiner mangelnden Selbstbeschränkung und nicht vorhandener Demut. Das wird bleiben. Denn das ist urwestlich. Und darum geht es in der einen oder anderen Form nach dem Krieg wieder weiter wie zuvor. Denn die Frage, wie es sein kann, dass es ein Übel gibt, wenn wir doch allmächtig sind, ist das westliche Theodizee-Problem, das auf Dauer in der westlichen DNA angelegt ist.

Christian Kümpel

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