Warum man mit dem Gendern aufhören sollte

Man kennt ihn eher als Verleger von Musikbüchern. Doch nun hat sich Fabian Payr dem Thema Gendern gewidmet. In dem Buch „Von Menschen und Mensch*innen“ erklärt er, warum man die Finger davon lassen sollte. Die Argumente in dem Werk sind Legion. Doch ein paar Fehlannahmen der Genderisten sollen dennoch angesprochen werden. Wenn man von Lehrern spricht, dann meinte man Frauen immer mit. Sie gingen sozusagen in dem Begriff auf, während Männer im schon im Begriff enthalten sind. Diese Behauptung ist falsch.

Richtig ist vielmehr, dass umgekehrt Männer in der Grammatik mitgemeint werden. So ist der Lehrer ein Mann oder eine Frau. Aber eine Lehrerin ist immer eine Frau. Es ist auch nicht wahr, dass man bei dem Wort Lehrer nur an Männer denkt. „Ich gehe zum Arzt!“. Stimmt es, dass jeder davon ausgeht, der Arzt, zum welchem man geht, wäre ein Mann? Natürlich nicht! Hier geht es nur um die Information, dass man zu einer Person geht, die einem ärztlicher Hilfe leisten kann. Das Geschlecht spielt keine Rolle. Das liegt daran, dass Lehrer, Hörer oder Denker unmarkierte Begriffe sind, die erst durch Endungen markiert werden. Wenn man also zu einem Mann möchte, dann muss man sagen: Ich gehe zu einem männlichen Arzt.

Ein anderer Mythos: Eine gendergerechte Sprache änderte die gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Türkischen gibt es keine Genera, als keine grammatischen Geschlechter. Spiegelt das das Geschlechterverhältnis in der Türkei wider? Was man so hört, eher nicht. Würde es im Übrigen etwas ändern, wenn man arme Leute als reich bezeichnete? Anscheinend handelt es sich bei Gendern um Sprachmagie. Und die ist so wirksam wie jede Zauberei. Schließlich wird behauptet, es mache keinen Unterschied, ob man Studierender schreibt oder Student. Doch was ist mit ehemaligen Studierenden?  Man kann nicht gerade studieren und damit aufgehört haben. Es gibt auch keinen gekündigten Mietenden. Denn ohne Wohnung ist man vielleicht ein gekündigter Mieter. Aber das Mieten ist eben vorbei. Und überhaupt: Ein Trinkender ist eben noch lange kein Trinker.

Wer sich im Kulturkampf nach Argumenten sucht, um dort zu bestehen, der ist mit dem Werk bestens bedient, übrigens auch wenn man eher links verortet ist. Denn wer gendert sorgt dafür, dass Migranten und bildungsschwache Personen, die es schon schwer genug haben, die Schriftsprache zu verstehen, es noch schwerer haben und die Kernaussagen eines Satzes nicht mehr verstehen. Denn wie wäre folgender Satz ohne Sicherheit in der Sprache zu entziffern? „Ein Hausarzt bzw. eine Hausärztin ist ein(e) niedergelassene(r) freiberufliche(r) Arzt oder Ärztin, die oder der für den Patienten oder die Patientinnen meist die erste Anlaufstelle ist.

Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

Critical Race Theory (2) – Themen

Den ersten Teil zum Thema “Critical Race Theory” finden Sie hier: https://www.denkvorbote.de/2021/05/01/critical-race-theory-1-einfuehrung-und-geschichte/

Um besser zu verstehen worum es sich bei CRT handelt, sollte man sich mit den Kernthemen dieser Theorie beschäftigen:

Rasse sei kein natürliches, biologisch begründetes Merkmal physisch unterschiedlicher Untergruppen von Menschen, sondern eine sozial konstruierte Kategorie, die dazu diene Farbige Menschen zu unterdrücken und auszubeuten.

Kritik des Liberalismus: Vertreter der CRT hinterfragen grundlegende liberale Konzepte wie z.B. das Prinzip der Rationalität (die bahnbrechende Errungenschaft aus dem Zeitalter der Aufklärung) oder das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und stellen die Strategie der kleinen Schritte des traditionellen Bürgerrechtsdiskurses in Frage. Sie befürworten einen rassebewussten Ansatz zur sozialen Transformation und wenden sich gegen gesellschaftspolitische Maßnahmen, die diskriminierten Gruppen durch gezielte Vorteilsgewährung helfen wollen. Weiterhin lehnen sie sozialliberale Prinzipien wie Farbenblindheit , Vorbildfunktion oder das Verdienstprinzip ab.

Storytelling: Hierbei geht es um die Verwendung von Erzählungen, um eigene Erfahrungen rassistischer Diskriminierung auszudrücken. Bryan Brayboy favorisiert die Kulturtechnik des Geschichtenerzählens in indigen-amerikanischen Gemeinschaften als Ersatz für die Theorie und hat eine Tribal Critical Race Theory (TribCrit) vorgeschlagen.

Revisionistische Interpretationen der amerikanischen Bürgerrechts-Gesetze und des Fortschritts: CRT übt Kritik an Bürgerrechtsstipendien und Antidiskriminierungsgesetzen. CRT-Gründer Derrick Bell argumentiert, dass die Fortschritte der Bürgerrechte für Schwarze mit dem Eigeninteresse der weißen Elitisten zusammenfallen würden. Das US-Bürgerrechtsgesetz z.B. sei nur erlassen worden, um das Image der Vereinigten Staaten in den Augen der Länder der Dritten Welt zu verbessern, die die USA während des Kalten Krieges als Verbündete brauchten.

Intersektionalität: Laut dieser Theorie kann kein Individuum durch die Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe hinreichend identifiziert werden. Untersucht wird daher wie sich die Kombination von Rasse, Geschlecht, Klasse, nationaler Herkunft und sexueller Orientierung in verschiedenen Situationen auswirkt. 

Standpunkt-Erkenntnistheorie: Die Ansicht, dass ein Angehöriger einer Minderheit die Autorität und Fähigkeit hat, über Rassismus zu sprechen, die Angehörige anderer Rassen nicht haben.

Schwarzer Nationalismus und Separatismus: Schwarzer nationalistischer Aktivismus dreht sich um die soziale, politische und wirtschaftliche Ermächtigung schwarzer Gemeinschaften und Menschen, insbesondere um der Integration in die weiße Kultur zu widerstehen und eine ausgeprägte schwarze Identität zu bewahren.

Weißes Privileg: Weiße Privilegien sind soziale Vorteile, die mit der Mitgliedschaft in der dominierenden weißen Rasse einhergehen. Cheryl I. Harris und Gloria Ladson-Billings verwenden den Ausdruck “Weiß sein als Eigentum”, wobei Weiß das ultimative Eigentum ist, das nur Weiße besitzen können. In diesem Sinne ist aus Sicht der kritischen Rassentheorie die weiße Haut, die einige Amerikaner besitzen, mit dem Besitz eines Grundstücks vergleichbar, da sie dem Eigentümer Privilegien gewährt, die ein Mieter nicht gewähren würde gewährt werden.

Verinnerlichung: Karen Pyke dokumentiert das theoretische Element des internalisierten Rassismus oder der internalisierten rassistischen Unterdrückung. Hierbei beginnen Opfer von Rassismus selber an die Ideologie zu glauben, dass sie den Weißen und der weißen Kultur unterlegen sind. Die Internalisierung von Rassismus beruht nicht auf Schwäche, Unwissenheit, Minderwertigkeit, psychischen Defekten, Leichtgläubigkeit oder anderen Mängeln der Unterdrückten. Stattdessen tragen Autorität und Macht in allen Aspekten der Gesellschaft zu Gefühlen der Ungleichheit bei.

Institutioneller Rassismus: Kritische Rassentheoretiker sind der Ansicht, dass das Gesetz und die Rechtsinstitutionen in den Vereinigten Staaten insofern von Natur aus rassistisch sind, als sie dazu dienen, soziale, wirtschaftliche und politische Ungleichheiten zwischen Weißen und Nichtweißen, insbesondere Afroamerikanern, zu schaffen und aufrechtzuerhalten .

Hassrede ist öffentliche Rede, die Hass ausdrückt oder Gewalt gegen eine Person oder Gruppe aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung fördert. Hassrede wird normalerweise als Kommunikation von Feindseligkeit oder Verunglimpfung einer Person oder einer Gruppe aufgrund eines Gruppenmerkmals wie Rasse, Hautfarbe, nationaler Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Religion oder sexueller Orientierung angesehen. Kritische Rassentheoretiker fordern bei Hassrede drastische Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Positive Diskriminierung (eng. Affirmative Action): CRT-Theoretiker argumentieren, dass sogenannte Leistungsstandards für Einstellungs- und Bildungszulassungen aus einer Vielzahl von Gründen nicht rassenneutral sind, und dass solche Standards Teil der Neutralitätsrhetorik sind, mit der Weiße ihren unverhältnismäßigen Anteil an Ressourcen und Sozialleistungen rechtfertigen. 

Quellen:
Pluckrose, H. & Lindsay, J. (2020). Cynical Theories: How Universities Made Everything about Race, Gender and Identity – And Why this Harms Everybody. Faber And Faber Ltd.

Delgado, R. &  Stefancic, J. & Harris, A. (2017) Critical Race Theory (Third Edition): An Introduction. NYU Press.

Britannica, The Editors of Encyclopaedia. “Critical race theory”. Encyclopedia Britannica, 2 Apr. 2021, https://www.britannica.com/topic/critical-race-theory. Accessed 5 June 2021.

Populismus als Symptom eines politischen Paradigmenwechsels. Andreas Reckwitz im Interview [deutschlandfunk.de]

Andreas Reckwitz im Gespräch mit Wolfgang Schiller über die Krise des Liberalismus. Deutschlandfunk, 09.05.2021.

Vorweg an unsere ostdeutschen Leser: Reckwitz hat wahrscheinlich einen sehr stark westdeutsch geprägten Blick auf unsere Geschichte. Eine Beschäftigung mit seinen Theorien beantwortet jedoch mit Sicherheit einige ostdeutsche Anfragen an den Zeitgeist.

Ich habe trotzdem mal versucht das Interview in ein paar Sätzen zusammenzufassen: Reckwitz sieht die westlichen Gesellschaften vor einem Paradigmenwechsel.
In der Nachkriegeszeit herrschte nach seiner Einschätzung das Paradigma der geschlossenen korporatistischen Gesellschaft. Diese führte zu Verkrustungen bzw. Sklerosierungen, welche nach mehr Öffnungen verlangten. Reckwitz bezeichnet dieses Paradigma den “apertistischen Liberalismus”, welcher auf der kulturellen Seite den progressiven Liberalismus (sexuelle Befreiung, liberalisierte Drogenpolitik, Ehe für Alle) und auf dem Bereich der Wirtschaft den Neoliberalismus hervorbrachte.
Aufgrund starker affektiver Aufladung u.a. auch durch das Aufkommen der sozialen Medien kommt es in unserer Gegenwart zunehmend zu unlösbaren  Kulturkonflikten zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Der Neoliberalismus wird hier zunehmend in die Verantwortung genommen. Aber auch auf rein  wirtschaftlichen Gebiet löst der Neoliberalismus immer mehr Zweifel am Paradigma der Öffnung aus.
Den Rechtspopulismus sieht Reckwitz eigentlich nicht als das neue Paradigma, sondern eher als Symptom der Krise.
Seine Einschätzung, dass neomarxistische Initiativen aus dem Umfeld der US-amerikanischen Campus-Aktivismus wie “Black Life Matters” nicht als linke Identitätspolitik, sondern irgendwie doch noch in eine demokratische Bürgerrechtsbewegung einzuordnen ist kann ich dabei leider überhaupt nicht teilen.
Jedenfalls erwartet Reckwitz als neues Paradigma den einbettenden Liberalismus, bei dem es zwar behutsame weitere Öffnungen geben wird, jedoch noch deutlicher ein starkes Anwachsen “wohlwollender” staatlichen Regulierung von Wirtschafts- und Kulturkonflikten. Die Corona-Krise scheint da für Reckwitz schon ein Vorbote zu sein.

Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Interview mit dem Soziologen Andreas Reckwitz in dem dieser herausarbeitet, dass wir uns zur Zeit in einer spannenden Phase des Paradigmenwechsel vom apertistischen zum einbettenden Liberalismus befinden.

https://www.deutschlandfunk.de/die-krise-des-liberalismus-populismus-als-symptom-eines.1184.de.html?dram:article_id=496970

Critical Race Theory (1) – Einführung und Geschichte


Für die sog. “Critical Race Theory” gibt es noch keine allgemeingültige deutsche Übersetzung. In progressiven Kreisen wird nämlich argumentiert, dass der Begriff der “Rasse” im deutschen Sprachgebrauch im Gegensatz zum Gebrauch des englischen Begriffes “race” eine zu stark biologistische Kernbedeutung habe. Jedoch basieren nach dem Interesse für die “Black Lives Matter”-Bewegung auch in Deutschland zunehmend die identitätspolitischen Diskurse auf diese Theorie. Daher will ich sie in einigen Blogartikeln zunächst in ihren Grundzügen darstellen, um in weiteren Teilen die Kritik an diesem Konzept zusammenzufassen.

Es gibt einen 2. Teil zu diesem Artikel: Critical Race Theory (2) – Themen: https://www.denkvorbote.de/2021/06/05/critical-race-theory-2-themen/

I. Einführung
Die Critical Race Theory (CRT) ist eine von us-amerikanischen Bürgerrechts-Gelehrten und Aktivisten gegründete akademische Bewegung. CRT untersucht soziale und kulturelle Fragestellungen in Bezug auf Rasse, Recht sowie soziale und politische Macht. Zentral sind Standpunkte gegen die bestehende Rechtsordnung aus rassenbezogener Sicht und insbesondere die Kritik der gängigen liberalen Ansätze zur Gerechtigkeit. Recht und die Rechtsinstitutionen seien von Natur aus rassistisch. Das Konzept der Rasse sei selbst nicht biologisch begründet und natürlich, sondern sei ein sozial konstruiertes Konzept, das von Weißen verwendet wird, um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen auf Kosten von People of Colour zu fördern. Die Ideen entstanden Mitte der 1970er Jahre in den Schriften mehrerer amerikanischer Rechtswissenschaftler, darunter Derrick Bell, Alan Freeman, Kimberlé Crenshaw, Richard Delgado und Patricia J. Williams. CRT entstand in den 1980er Jahren als Bewegung, die die Theorien Critical Legal Studies (CLS) mit Fokus auf Rasse überarbeitete. Wie das Wort “kritisch” andeutet, wurzeln beide theoretischen Rahmenbedingungen in der Kritischen Theorie, einer ideologiekritischen Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die auf die Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Walter Benjamin) zurückgeht. CRT wird durch zwei gemeinsame Thesen lose verbunden: Erstens existiere eine weiße Vormachtstellung, die ihre Macht durch das Gesetz aufrecht erhält. Zweitens sei es möglich, das Verhältnis zwischen Recht und weißer Vormachtstellung zu verändern sowie Rassenemanzipation und Nicht-Unterordnung im weiteren Sinne zu erreichen. Kritiker der CRT sagen, dass sie sich auf den sozialen Konstruktivismus stützt, das Storytelling über Beweise und Vernunft erhebt, die Konzepte von Wahrheit und Leistung ablehnt und gegen den Liberalismus opponiert. Mitbegründer Richard Delgado definiert CRT im Jahr 2017 als “eine Sammlung von Aktivisten und Gelehrten, die daran interessiert sind, die Beziehung zwischen Rasse, Rassismus und Macht zu untersuchen und zu verändern. 

II. Geschichte
a. Frühe Ursprünge
: Bereits in den 1970er Jahren versuchten kritische Juristen, Aktivisten und Anwälte zu verstehen, warum Siege in der Bürgerrechts-Ära ins Stocken geraten waren. In den frühen 1980er Jahren organisierten farbige Studenten an der Harvard Law School Proteste gegen den Mangel an rassischer Vielfalt im Lehrplan, unter den Studenten und in der Fakultät. Diese Studenten unterstützten Professor Derrick Bell, der während seiner Zeit in Harvard neue Kurse entwickelt hatte, die das amerikanische Recht auf Rassismus untersuchten. Die Studenten wollten nach dem Weggang Bells von Harvard diese Kurse in Eigenregie und unter schwarzer Leitung unterrichten, was jedoch von der Universitätsleitung unterbunden wurde. Als Reaktion darauf boykottierten Kimberlé Crenshaw und andere Studenten den offiziellen Kurs und organisierten mit Gastrednern wie Richard Delgado einen “Alternativkurs” unter Verwendung von Bell’s 1973 verfasstem Werk “Race, Racism and American Law” (1973, 1. Auflage) als Kerntext.

b. Erste Treffen: Das erste formelle Treffen zum Thema CRT wurde 1989 von Kimberlé Crenshaw der Workshop “Neue Entwicklungen in der kritischen Rassentheorie ” organisiert, bei dem versucht wurde, die theoretischen Grundlagen Kritischer Rechts-Studien (CLS) mit den alltäglichen Realitäten der amerikanischen Rassenpolitik zu verbinden. Obwohl CLS die Rolle des Rechtssystems bei der Schaffung und Legitimation drückender sozialer Strukturen kritisierte, bot es keine Alternativen. CRT-Wissenschaftler wie Derrick Bell und Alan Freeman argumentieren, dass das Versäumnis, Rasse und Rassismus in ihre Analyse einzubeziehen, CLS daran gehindert hat, eine neue Richtung für die soziale Transformation zu entwickeln. Der CRT-Workshop 1989 an der Universität von Wisconsin-Madison, an dem 24 farbige Wissenschaftler teilnahmen, markierte einen Wendepunkt für das Gebiet. Nach diesem Treffen begannen die Wissenschaftler, ein höheres Volumen an Werken mit CRT zu veröffentlichen, darunter einige, die beim allgemeinen Publikum populär wurden. 1991 veröffentlichte Patricia Williams “The Alchemy of Race and Rights”, während Derrick Bell 1992 “Faces at the Bottom of the Well“ veröffentlichte, die beide nationale Bestseller wurden.

c. Ausbreitung: 1995 bewegte sich CRT über die Grenzen der Rechtswissenschaft hinaus und wurde erstmals im Bildungsbereich angewendet, um Ungleichheiten im Zusammenhang mit der Schulbildung besser zu verstehen. Seitdem haben Wissenschaftler ihre Arbeit in diesem Zusammenhang erweitert, um Themen wie Segregation, Beziehungen zwischen Rasse, Geschlecht und akademischen Leistungen, Pädagogik und Forschungsmethoden zu untersuchen. Ab 2002 boten über 20 juristische Fakultäten in den USA und mindestens 3 außerhalb der USA Kurse zur kritischen Rassentheorie an. Neben den Rechtswissenschaften wird CRT mittlerweile in den Bereichen Bildung, Politikwissenschaft, Frauenforschung, Ethnologie, Kommunikation, Soziologie und Amerikanistik gelehrt und angewendet.

Es gibt einen 2. Teil zu diesem Artikel: Critical Race Theory (2) – Themen: https://www.denkvorbote.de/2021/06/05/critical-race-theory-2-themen/

Quellen:
Pluckrose, H. & Lindsay, J. (2020). Cynical Theories: How Universities Made Everything about Race, Gender and Identity – And Why this Harms Everybody. Faber And Faber Ltd.

Delgado, R. &  Stefancic, J. & Harris, A. (2017) Critical Race Theory (Third Edition): An Introduction. NYU Press.

Wikipedia contributors. (2021, April 30). Critical race theory. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Retrieved 15:55, May 1, 2021, from https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Critical_race_theory&oldid=1020611706

Die Konditionierung

Bekanntermaßen kommt es bei der Gendersprache auf die Sichtbarmachung von Geschlechtern an. Die Uni Potsdam hat dazu einen Leitfaden entwickelt, den mein Sohn als Student zu befolgen hat, will er keinen Punktabzug bei seiner Arbeit riskieren. In diesem Leitfaden wird die männliche Personenbezeichnung als Fehler bezeichnet, wenn sie sich auch auf Frauen bezieht. Denn wenn man nur von Wissenschaftlern redet, dann wären Frauen nicht sichtbar.

„In der Arbeit wird aus Gründen der Lesbarkeit auf das Gendern verzichtet. Frauen sind immer mitgemeint.“ Mit solchen Generalklauseln kommt man an der Uni Potsdam leider nicht durch. Weibliche Formen nicht außerdem nicht in Klammern zu setzen. Wissenschaftler(innen), das geht gar nicht

 „Vermeiden sie die vermännlichte Silbe „man“ beim Neutralisieren des Geschlechts.“ Eine witzige Bemerkung. Denn eine vermännlichte Silbe festzustellen ist ungefähr so geistreich wie zu behaupten, die Silbe frau sei verweiblicht. Gemeint ist natürlich das generalisierende Personalpronomen „man“, das in der Tat vom Wort Mann kommt. Genauso wie jedermann oder Mensch. Insofern wäre zu hinterfragen, ob das Wort Mensch überhaupt noch in einem wissenschaftlichen Text vorkommen darf und nicht durch das Wort Mensch*in ersetzt werden sollte.

Die Funktion des Pronomens „man“ ist es unter anderem Passivkonstruktionen zu vermeiden. So ist ein aktives „Man arbeitet hier in zwei Schichten“ semantisch nicht zu unterscheiden von „Hier wird in zwei Schichten gearbeitet“. Doch um „man“ zu vermieden, wird die passive Form empfohlen. Ist das sinnvoll? Denn anderswo kann man lesen, dass Passivsätze starr und unpersönlich klingen. Zum Beispiel bei Katharina Tielsch in 10 Tipps für besser lesbare Texte. Aber Hand aufs Herz: Wissenschaftliche Texte werden ja umso wertvoller, je opaker sie sind.

Ganz wichtig ist es der Uni Potsdam auch, Rollenklischees zu vermeiden. Frauenparkplatz, Mutter-Kind-Raum, Fräuleinwunder oder Hexenverbrennung, das sind so Wörter, die kann man einfach nicht mehr bringen. Sicher gilt das auch für Mannsbild. Doch das ist noch nicht alles: Die Universität Potsdam ist kein Arbeitgeber, sondern eine Arbeitgeberin. Diese Kongruenz zu Ende gedacht, wäre das Parlament weder Arbeitgeber noch Arbeitgeberin. Wie wäre ein Arbeitgeberchen? An anderer Stelle wird die Kongruenz allerdings wieder abgelehnt. Auch sei es viel besser von „alle“ und „die“ zu sprechen. Ob sich nun die männlichen Studenten mit „die“ wohlfühlen, wird nicht weiter hinterfragt.

Viele Argumente sind bereits gegen das Gendern ins Feld geführt worden. Hier nur vier: In der Sprache wird immer mitgemeint. Drei Tage Aufenthalt heißt, dass man auch drei Nächte Aufenthalt hatte. Drei Personen heißt, dass es auch drei Männer sein können, obwohl sich bei Person um ein Wort mit weiblichem Genus handelt. Denn das grammatische Geschlecht (Genus) ist eben nicht das biologische Geschlecht (Sexus). Auch Hinweis, dass ein Studierender etwas anders darstellt als ein Student. Dies ist leicht zu überprüfen. Ein toter Studierender ist etwas Unmögliches. Eine gehende Schwimmende auch. Der Einbrecher sollte nicht zum Einbrechenden werden, der Totschläger bitte nicht zum Totschlagenden und der Betrüger, wenn´s beliebt, nicht zum Betrügenden.

Schließlich gibt es ein Gesetz in jeder Sprachentwicklung. Es nennt sich Sprachökonomie. „Man versteht unter Sprachökonomie die Neigung von Sprecher und Hörer, auf Sprachformen so einzuwirken, dass die Kommunikation zwischen beiden gewährleistet ist bei einem für beide möglichst geringen Aufwand.“ So heißt es bei Wikipedia. Gegen dieses Gesetz verstößt, wer die Wörter und Texte länger macht als nötig, ohne dass es ein Zugewinn an Verständigung gäbe. Dieses Gesetz der Sprachökonomie ist auch der Grund, warum man nie hört: Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, sondern immer sehr geehrte Bürger und Bürger. Achten Sie mal das nächste Mal drauf. Es ist jedenfalls ein Heidenaufwand, jeden mitzunehmen. Das erspart man sich besser.

Als Argument für die Verwendung der gendergerechten Sprache wird schließlich noch ein kleines Rätsel gebracht. Ein Junge wird ins Krankenhaus gebracht, nachdem sein Vater und er einen Unfall hatten. Der Chirurg meint: „Ich kann ihn nicht operieren, er ist mein Sohn.“ Frage: Wer ist der Chirurg? Die Mutter! Vielleicht zur Verständnishilfe: Darum gibt es das Wort Chirurgin. Das darf man ja benutzen, wenn es passt. Und außerdem ist das Rätsel leider extrem schwulenfeindlich, wenn man drüber nachdenkt. Denn seit wann können Männer keine Mütter sein?

Dass alle an der Hochschule mitmachen werden bei der Sprachverhunzung, ist sonnenklar. Denn man möchte einfach nur sein Studium hinter sich bringen. Ärger will man sich nicht aufhalsen. Die Uni wird also damit durchkommen, außer einer rafft sich auf und klagt wegen Punktabzugs vor einem Verwaltungsgericht. Woher die Uni das Recht nimmt, anderen eine Privatsprache vorzuschreiben, ist nicht bekannt. Aber so etwas wird nicht hinterfragt. Genau so wenig wie die Frage, ob hier Macht missbraucht wird. Um einen Gedanken Foucaults gewinnbringend auf die heutigen Hochschulen einzubringen: Universitäten haben die gleichen sozialen Funktionen wie Gefängnisse und Irrenhäuser – sie definieren, klassifizieren, verwalten und regulieren Menschen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bild von Wolfgang Appel auf Pixabay

OK Boomer. Klappe halten, zuhören und zahlen!

Ich beschäftige mich gerade intensiv mit dem Thema “Critical Race Theory”. Eines der daraus abgeleiteten Theorien ist das Konzept der Intersektionalität. Intersektionalität kommt von dem englischen Begriff intersection und heißt übersetzt „Schnittpunkt, Schnittmenge“. Der Begriff beschreibt die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person. Dieses Konzept hat mir dabei geholfen ein ganz spezielles Woke-Bewußtsein für meinen eigenen Marginalisierungs-Status zu entwickeln. Ich gehöre nämlich innerhalb der Gruppe der marginalisierten postmigrantischen  Sudetendeutschen der zweiten Generation – wie der Name Jarka [dt = jungfräuliches Schaf] zeigt – zu einer in unserer Mehrheitsgesellschaft oft ausgegrenzten slawischen Untergruppe mit dem Stigma eines nichtdeutschen Nachnamens. Augrund eines Arbeitsunfalls in den 80er Jahren, der zum Verlust meines kleinen Fingers führte, musste ich lernen in einer Welt zurechtzukommen, die für Menschen mit 10 Fingern geschaffen wurde. Schließlich entspreche ich als Ehemann einer 25 Jahre jüngeren Frau nun so überhaupt nicht den gesellschaftlich vorherrschenden Stereotypen und teile Ausgrenzungserfahrungen anderer queerer Menschen in unserer Gesellschaft.
Die Intersektionalitäts-Theorie gibt mir nun Werkzeuge an die Hand wie ich mich mit Menschen, die identische Marginalisierungserfahrungen mit mir teilen organisieren kann. Wichtig ist dabei, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft dabei kein Mitspracherecht hat und endlich lernt uns zuzuhören. Denn sie ist blind für die Erfahrungen von systemischer Diskriminierung, die ich und meine Leidensgenossen tagtäglich im Alltag erfahren müssen.
Erfreulicherweise gibt es ein wachsendes Netzwerk von Diversity-Agenturen, die top-down die Chefetagen der Medien- und Politikwelten und deren unwoken Mitarbeiter sensibilisieren. Dort können meine Leidensgenossen und ich mit sehr angemessenen Honoraren einem privilegierten Stamm von progressiven Boomern die Prinzipien der Intersektionalität vermitteln.
Get woke! Stay woke!

Transsexualität, die Chance für die Chemieindustrie

Es gibt Leserbriefe, die verdienen es, zweimal gelesen zu werden. So die Mitteilung von Stefanie Bode von der Women´s Human Right Campaign Deutschland in der FAZ vom 07.04. Die Dame gendert zwar, aber ihre Argumente sind beachtlich. Worum geht es? Um das sogenannte Zuweisungsgeschlecht und seine Folgen. Das Wort Zuweisungsgeschlecht suggeriert, dass dem Neugeborenen ein Geschlecht zugewiesen wird. Frau Bode macht jedoch in ihrem Brief deutlich, dass man Geschlechter nicht zuweist, sondern feststellt. Oder, so möchte man fragen, gibt es eine Geschlechterzuweisungskommission in den Geburtsstationen, die darüber befinden, welches Geschlecht ein Säugling bekommt? Alsdann wird das Wort „straight ally“ problematisiert. Der Begriff suggeriere so Bode, dass Homosexualität mit Transgender in Verbindung stehe. Aus meiner Sicht irrt Bode hier. Das Wort bedeutet eher, dass heterosexuelle Personen Schwule und Lesben unterstützten. Bode weist jedoch zurecht darauf hin, dass lesbische Frauen sich als Frauen und schwule Männer sich als Männer fühlen. So zu tun, als hätte das irgendwas mit Transsexualität zu tun, ist grundfalsch. Und daraus zu schließen, man wäre verbündet, ebenfalls.

Dann kommt Bode auf den entscheidenden Punkt, indem sie von Geschlechterempfinden spricht. Hier erwähnt Bode zwei Konzepte, bei denen es vor nicht allzulanger Zeit darum ging, diese nicht zu vermengen: Fakten und Glauben. Fakt ist, dass man ein Geschlecht hat. Glaube ist, wenn man meint, ein Halbgott zu sein, oder aber einem anderen Geschlecht anzugehören. Kindern zu helfen, indem man sie in einem Glauben praktisch bestärkt, der nichts mit den Fakten zu tun habe, sei nicht sehr erwachsen, meint Bode. Oder würde irgendjemand auf die Idee kommen, Mädchen in ihrem Glauben zu bestärken, eine Fee zu sein, damit sie sich Flügel auf den Rücken transplantieren lassen können?

Aber es wird noch interessanter, als Bode die Frage aufwirft, was für eine Identität das überhaupt sei, wenn sie zum einen ja doch auf der üblichen Geschlechterform basiert, zum anderen auf einer dauerhaften Medikation beruht und so die Dissoziation vom eigenen Körper “normalisiert”. In den Worten Bodes: „Alles nichts Erstrebenswertes, was es zu beklatschen gilt.“

Seit 2019 wird Transsexualität als Zustand sexuellen Gesundheit definiert. Und es stimmt ja auch: Nicht jeder Transsexuelle muss Pillen schlucken. Ihn als krank zu bezeichen, wäre schwierig. Meine Intuition sagt mir aber, dass jemand der jeden Tag Medikamente nehmen muss, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, man wäre ein Mann oder eine Frau, kaum als gesund bezeichnet werden kann. Doch wenn auch Gesundheit zur Glaubensfrage wird, dann ist wahrscheinlich auch das möglich.

Am Ende Leserbriefes stellt Bode die Frage, wem die Diskussion um ein Zuwendungsgeschlecht nutzt. Sie kommt dabei auf den industriel-medizinischen Komplex zu sprechen. Der IMK wittert ihrer Meinung nach die Chance auf das große Geschäft. Denn, so möchte ich ergänzen, wenn man nur genug Kindern einredet, sie seien im falschen Körper gefangen, so werden Hormonproduzenten, aber auch Chirurgen den großen Reibach machen. Wer nun meint, dass Ärzte grundsätzlich verhindern würden, Menschen zu schaden, der sei daran erinnert, dass in den USA Millionen verdient wurden mit Opioiden, die bei vielen zu Suchterkrankungen führten. Dazu auch folgender Link: www.aerzteblatt.de/nachrichten/102541/Aerzte-in-USA-wegen-illegaler-Schmerzmittelverordnungen-angeklagt. Die Frage, die Bode stellt: Bahnt sich in der Frage der nächste Skandal an? Wenn die Genderlobby hier ganze Arbeit leistet, kann das durchaus sein.

Dass die Identitätspolitik hier also “nützliche“ Arbeit als Türöffner leistet, sei abschließend von mir erwähnt. Immerhin hat man ja auch ein gewisses Interesse daran, das Geschlecht zur Disposition jedes Einzelnen zu stellen. Die Industrie scheint dieses Interesse zu teilen. So was nennt man wohl eine unheilige Allianz.

Bild von Rudy and Peter Skitterians auf Pixabay

Don´t feed the beast!

Aufklärer denken, dass sich die Wahrheit langsam, aber sicher offenbart. Darin ist die Aufklärung ganz Kind des Christentums. Auch Thierse ist jemand, der meint, die Wahrheit brauche Zeit, um sich zu zeigen. Und so bittet er um Verständnis dafür, dass manche bei den Forderungen der Identitätspolitik auf dem Marsch ins Licht nicht so mitkommen. „Ich wünsche mir, dass man dem „gemeinen Volk“ ein bisschen mehr Zeit lässt.“, so lässt er in dem Interview verlauten, das er dem Tagesspiegel gegeben hat. Die Bemerkung zieht allerdings seinen eigenen Thesen den Boden unter den Füßen weg.

Zu diesen schreibt Wikipedia „Die Identitätspolitik von rechts sei eine Politik, die zu Ausschließung, Hass und Gewalt führe. Und die Identitätspolitik von links führe, wenn sie einseitig und radikal betrieben werde, zu Cancel Culture. Das heiße, man wolle sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, die Ansichten hätten, die einem nicht passten. Das sei „ziemlich demokratiefremd“ und im Grunde demokratiefeindlich.“ So weit, so richtig. Doch was soll dann der Satz, man müsse dem gemeinen Volk mehr Zeit lassen, das Anliegen der Identity-Policy-Kaste nachzuvollziehen.

Und da sind wir eben wieder bei dem Grundproblem der Sozialdemokratie: Allen wohl und keinem Weh: ESPEDE. Man will es allen recht machen, auch dem ID-Monster, indem man seinen Forderungen nicht hart entgegentritt, sondern es bittet zu warten, bis auch das dumme Volk verstanden hat. Dabei sollte man eher mit Christopher Hitchens grundsätzlich feststellen: „Leute, die mit ihrer Haut, ihren Genitalien oder ihrem Clan denken, sind zunächst mal ein Problem.“ Und: „Der große Irrtum der heutigen politischen Korrektheit – um etwas zu sichern, das vage als” Vielfalt “bezeichnet wird, besteht es auf etwas, das definitiv als Konformität erkennbar ist.“ Anders gesagt: Wenn das dumme Volk endlich versteht, dass man mit schwarzer Hautfarbe, weiblichem Geschlecht und religiösen Überzeugungen grundsätzlich unterdrückt ist, sind wir immer noch nicht erlöst. Im Gegenteil.

Bild von Alexandra ❤️A life without animals is not worth living❤️ auf Pixabay

Die Konstruktion der Konstruktion

Wenn man geistig Behinderte auf eine Schule für geistig Gesunde schickt, dann werden diese geistig gesund. Wenn ein Mann ein Kleid anzieht und dreimal spricht: Ich bin eine Frau!, dann ist er eine Frau. Wenn jemand fettsüchtig ist, und der Arzt rät zu einer Diät, dann ist das diskriminierend. Was sich auf den ersten Blick absurd erscheint, wird möglich, wenn man dem radikalen Konstruktivismus folgt. Dieser besagt, dass es keine objektive Realität gebe, sondern dass jede Realität immer das Produkt der eigenen Sinnesleistung ist. Es käme also nur darauf an, richtig mit den eigenen Sinnen richtig zu konstruieren, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. So gesehen müsste man einem geistig Behinderten nur ein Umfeld schaffen, in dem er sich als geistig Gesunder entwerfen kann. Und wenn der Mann in Frauenkleidern mit uns gemeinsam sein Frausein erschafft, dann wird er tatsächlich eine Frau. Schließlich müsste es mit etwas Anstrengung auch gelingen, einen Fettleibigen durch kognitive und geistige Anstrengung in ein Supermodell zu verwandeln. All das wird heutzutage versucht, wobei leider erste Rückschläge zu verzeichnen sind. Denn beim radikalen Konstruktivismus gibt es ein kleines Problem, das an dieser Stelle nicht verschwiegen werden kann. Eigentlich müsste er, wenn alles eine Konstruktion wäre, selbst auch eine sein. Anders gesagt: Zu behaupten, alles wäre eine Konstruktion, ist selbst eine Konstruktion und kann daher nicht als Begründung dafür herhalten, alles zur Konstruktion zu erklären. Wenn das so ist, wäre es nicht vernünftiger davon auszugehen, dass es die Menschen schon mit gewissen Realitäten zu tun haben. Könnte es daher nicht sein, dass geistig behinderte Kinder nicht besser dran sind, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern in eine Klasse gehen, um an ihrem Nichtbehindertsein zu arbeiten? Und könnte es nicht sein, dass ein Mann immer noch eine Frau ist, selbst wenn er einen BH trägt und fest davon überzeugt ist, eine Frau zu sein. Schließlich wäre durchaus zu fragen, ob ein Mann mit 150 Kilo nur als Übergewichtiger konstruiert worden ist oder einfach sehr ungesund lebt, weil Mensch einfach nicht für so ein Gewicht ausgelegt sind. Ein Witz über den radikalen Konstruktivismus geht so: Ein Arktisforscher, der zu erfrieren droht, wird in letzter Minute von einer Expedition gerettet: Zu den Teilnehmer des Rettungsteams spricht er dankbar: So ein Glück, dass ich sie gerade erfunden habe, um mich zu retten. Es ist eine Anekdote über uns, die wir glauben, es käme nur auf uns an, während uns in Wirklichkeit geholfen werden muss. Es ist ein Witz über unsere Zeit, zu der der radikale Konstruktivismus gut passt. Denn in der Tat glauben heute viele, alles wäre möglich, wenn man nur richtig konstruiert. Wie man seine Konstruktionen vom Irrsein abgrenzen will, müsste allerdings noch erforscht werden.

Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

Optische Täuschung

Es gibt da ein Phänomen, für das ich kein rechtes Wort kenne, welches aber weit verbreitet ist. Ich würde es versuchsweise als emotionale Disproportionalität bezeichnen. So eine emotionale Unverhältnismäßigkeit findet man häufig dann, wenn großes Unrecht eher kaum beachtet wird, jedoch an anderer Stelle in kleinerer Form ganz Gesellschaften erschüttert. So ist es beispielsweise bemerkenswert, dass der Tod von Georg Floyd durch das massive Fehlverhalten der US-amerikanischen Polizei so ein großes Echo fand – auch in Deutschland – obwohl Floyd kein Deutscher ist, kriminell war und eigentlich keine Besonderheit aufwies, außer schwarz zu sein. Der massenhafte Tod in Syrien dagegen, scheint hierzulande kaum jemand seelisch aufzuwühlen.

Was könnten die Gründe sein? Zum einen ist es sicher nicht unbeachtlich, dass der Tod des Schwarzen gefilmt wurde. So wurde für alle sichtbar, welche Ungeheuerlichkeit dort geschah. Denn es ist in der Tat furchtbar zu sehen, wie ein Mann erstickt wird, der um sein Leben bettelt. Dazu kam die Erzählung von dem Fass, das übergelaufen ist. Das Narrativ geht so: In den USA sterben täglich Schwarze durch weiße Polizei, weil es Rassismus gibt. Dieser Tote war nun der eine Tote zu viel. Und wie es immer so mit Narrativen ist, sie sind fest in unseren Köpfen verankert, obwohl sie nur lose mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Laut der Website von Statista sterben seit 2015 35 Schwarze auf eine Millionen Einwohner durch die Polizei. Bei Weißen liegt die Zahl bei 14. Allerdings gehen dreimal mehr Schwarze pro eine Million Einwohner ins Gefängnis als Weiße. Natürlich kann man diskutieren, welche Gründe es für diese Ungleichheit gibt. Aber was man deutlich sieht: Schwarze kommen häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Ist es da überraschend, dass sie auch häufiger erschossen werden? Seit Jahren gibt es übrigens mehr Schwarze in der Polizei, aber nicht weniger Gewalt gegen Schwarze. Spricht das für massiven Rassismus? Eher dafür, dass es in den USA eine grundsätzliche Härte bei der Polizei gibt. Das soll nicht heißen, dass die Polizeikräfte in den USA keinen Rassismus kennen. Doch George Floyd ist wohl in erster Linie deshalb gestorben, weil sich die Polizei in den USA seit den 80igern stark brutalisiert hat.

Doch was noch viel bemerkenswerter ist: Andere Formen von Ungerechtigkeiten können offensichtlich mit der Gewalt im Falle von Georg Floyd nicht mithalten, obwohl diese nicht unwesentlich sind. Zum Beispiel der Syrienkrieg. Im Jahre 2018 kamen in Berlin 100 Leute zusammen, um gegen den Syrienkrieg zu demonstrieren. Bei der BLM-Demo Black waren es zwei Jahre später 2000. In Syrien werden durch russische Piloten Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen bombardiert mit unfassbaren Folgen. Was könnte nun erklären, warum manche wegen George Floyds so wütend sind, aber im Falle des tausendfachen Todes in Syrien eher mit den Schultern zucken.

Nun die Lager für Uiguren in China, die Kriegsopfer in Syrien und die Kinderarbeit in Pakistan kommen einfach auf der Empörungsskala nicht an den Tod von Georg Floyd heran, weil die Menschen nicht perfekt sind. So wie sie wegen eines organischen „Konstruktionsfehlers“ leicht optischen Täuschungen unterliegen, so unterliegen sie auch moralischen Täuschungen und können die Proportionen nicht erkennen. Bei Moral und Empörungen kommt es außerdem sehr stark auf Moden und Strömungen an, nicht auf das Leid, das erfahren wird. Und zurzeit ist eben Rassismus in aller Munde. Man sollte wissen, dass man seiner Moral genauso wenig trauen darf wie seiner Erinnerung oder seinen Augen. Denn Moral braucht eine Geschichte, um uns zu empören. Die von dem Tod durch Rassismus einfach eingängiger als die von dem hundertfachen Tod in Syrien durch russische Jets. Und schließlich gibt es noch den Kieseleffekt: Man versucht sich als Mensch lieber an einem kleinen Stein als an einem Felsen, den man eh nicht heben kann. Wenn man dann den Kiesel in der Hand hält, glaubt man, ein Herkules zu sein. Black Lives Matter wäre der Kiesel, der leichter zu heben ist. Und so bleibt am Ende mit Stalin, einem Menschenkenner erster Güte, nur festzustellen: “Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur Statistik.” Klingt komisch, ist aber so.

Bild von 愚木混株 Cdd20 auf Pixabay