Das große Versprechen

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Reife, das ist die Einsicht, dass die Welt nicht perfekt ist und auch niemals sein wird. Der Trost für diejenigen, die so denken, besteht zumindest für die Gläubigen unter uns darin, dass nach dem Tod eine Chance auf Perfektion besteht, sei es die nachholende Gerechtigkeit durch Gott oder das perfekte Leben im Paradies. Viele glaubten, sie hätten es verdient. Alle anderen lernen, einigermaßen damit klarzukommen, dass gerade das Nicht-Perfekte das Leben ausmacht und wenig Hoffnung auf Perfektion besteht. Wenn die Welt für 80 Prozent einigermaßen passt, dann wäre schon viel erreicht.

Doch zurzeit obsiegt wieder einmal das Narrativ von der Welt als Jammertal. Alles ist schlecht für alle, außer für ein paar alte weiße Männer. Gar nicht mal so untypisch ist daran, dass es den Leuten zwar noch nie so gut gegangen ist, aber das Elend sich gefühlt jeden Tag vergrößert. Nur das nun nicht mehr der Teufel oder der Mensch an und für sich, die dafür verantwortlich sind. Nein, es sind jetzt die Strukturen. Es ist der strukturelle Rassismus, die strukturelle Frauendiskriminierung oder das strukturelle Nord-Süd-Gefälle. Die Probleme sind eben strukturell.

Das Dumme an sozialen Strukturen ist allerdings, dass man sie nicht sehen kann. Man kann sie nur indirekt nachweisen. Nehmen wir einmal an die Frauen – wie übrigens fast immer von privilegierten Frauen behauptet wird – seien durch gesellschaftliche Kräfte benachteiligt. Das würde bedeuten, dass Frauen weniger Chancen haben, zum Beispiel Kanzler zu werden. Fakt ist: Bis jetzt sind mehr Männer in der Politik als Frauen. Wäre das dann der Beweis für strukturelle Benachteiligung? Oder vielleicht doch eher dafür, dass sich Frauen insgesamt weniger für Politik interessieren? Und wäre das strukturell oder vielmehr biologisch? Wer weiß? Aber strukturell hört sich in jedem Fall erstmal gut an. Vor allem in Verbindung mit Diskriminierung.

Wahrhaft Liberale meinen, es genüge, wenn man eine Chance bekommt auf einen Posten. Insofern ist das System in Ordnung, wenn es einigermaßen durchlässig erscheint. Nach Strukturen fragt man da nicht. Illiberale erklären dagegen, wenn die Strukturen nicht wären, dann würden mehr Frauen, mehr Schwarze, mehr Arme ein Stück vom Kuchen bekommen. Und weil sie nur Krümel bekämen, müsse man die Strukturen aufbrechen. Zum Beispiel mit Quoten. Gibt es denn dann eine Garantie, dass die Strukturen andere wären und bessere wären? Vermutlich nicht, wenn man weiterhin den Moment für sich nutzen möchte, um andere vor sich herzutreiben. Die Strukturen sind schließlich allgegenwärtig und unfassbar.

Und so ist es naheliegend, zu behaupten, dass Gleichstellung nur der Anfang sein können im Kampf um die richtigen Strukturen. Überall müssten nun Frauen und Schwarze, Muslime und Menschen mit sexuell anderer Ausrichtung an die Macht. Vielleicht überall und für immer. Weiße alte Männer hätten dauerhaft zurückzustehen. Wegen der Strukturen, versteht sich.

Nun hegen einige den Verdacht, es gehe dabei nicht um strukturelle Gerechtigkeit, sondern um den strukturellen Kampf um die Fleischtöpfe. Die behauptete strukturelle Diskriminierung wäre dann jedenfalls nur ein Vehikel um kompetente weiße heterosexuelle Mitbewerber ohne Behinderung aus dem Rennen zu werfen, indem man ihnen strukturelle Vorteile andichtet. So wie eben früher der Nachbar beim Plausch mit der Hexe gesehen wurde.

Sollte das so sein, dann könnte es für die Anhängern der Poststrukturalisten am Ende zu einer großen Enttäuschung kommen, wenn man merkt, dass Leute, die ihren Job nur bekommen haben, weil sie schwarz oder transsexuell sind, nicht unbedingt geeignet sind für die Strukturen, in denen sie arbeiten sollen. Und was wird dieser Enttäuschung mit den Menschen machen? Vielleicht fangen sie dann wieder an, an eine Gerechtigkeit zu glauben, die nach dem Tod kommt. Denn in dieser Welt, wo nicht die Leistung entscheidet, sondern das Geschlecht, kann man in Punkto Gerechtigkeit gar nichts mehr erwarten.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay


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