Von nützlichen und weniger nützlichen Geschichten

Narrative, das Wort ist in aller Munde. Doch was sind Narrative genau? Im Grunde Mega-Erzählungen, die Sinn stiften und eine Gesellschaft zusammenhalten. Solche Narrative wären die Aufklärung, der Nationalstaat, das Christentum und so weiter. Heutzutage werden die Geschichten gleichzeitig erzählt. Daher wird´s manchmal ein bisschen schwierig, die Erzählstränge auseinanderzuhalten.  

Eine angeblich neue Geschichte, die man nun häufiger hört und die ziemlich laut daherkommt, nennt sich Identitätspolitik. Das Script geht ungefähr so: Es gibt Gruppen, die werden unterdrückt. Und dann gibt es Gruppen, die unterdrücken. Aus der Gruppe kommt man nicht heraus. Und die Unterdrückung ist systematisch. Und wenn man Glück oder vielmehr Pech hat, dann gehört man gleichzeitig verschiedenen Opfergruppen an. Und weil ja – Achtung Strukturalismus – zum Opfer immer auch der der Täter gehört, braucht man einen Buhmann, der für alles verantwortlich ist. Hier kommt die Kunstfigur des alten weißen Mannes ins Spiel.

Was macht so eine langweilige Geschichte für viele so interessant? Aber viel wichtiger, was bringt diese Story an Erkenntnisgewinn? Bei der Aufklärung weiß man es. Sie war in vielerlei Hinsicht befreiend. Und führte sogar dazu, dass man am Ende über die Aufklärung selbst aufgeklärt wurde. Auch beim Nationalstaat ist heute klar, dass Demokratie und Sozialstaat ohne ihn nicht denkbar wären. Immerhin zwei nice things to have. Auch beim Christentum wollen wir jetzt mal einräumen, dass es seine guten Seiten hat und hatte. Immerhin hat das schlechte Gewissen, dass man im Christentum verbreitete, die Herrschenden zivilisiert. Der Mensch wurde sozusagen verfeinert.

Und was ist jetzt mit der Identitätspolitik? Leider ist die Mär ohne viel Mehrwert, wenn man sie unter den Gesichtspunkten liest, die normalerweise eine gute Geschichte ausmachen. Ist sie lehrreich? Eigentlich nicht. Denn das es Gruppen gibt, wussten wir schon. Ist sie konstruktiv? Auch nicht, denn sie sorgt für ständigen Ärger und viel Wut, und zwar in jeder Gruppe, weil man ja laut Identitätspolitik immer unterdrückt wird, und zwar selbst dann, wenn man es gar nicht merkt. Wäre sie dann wenigstens originell? Kaum. Denn dass der Einzelne in der Gruppe aufgeht und seine Identität aus der Gruppe bezieht, dies ist keine Novelle. Ich vermute so etwas erzählte man sich schon vor 10.000 Jahren am Lagerfeuer.

Allerdings ist die Geschichte dennoch populär. Immerhin gibt es Helden und Bösewichte, ganz so wie bei jedem guten Hollywood Film. Doch leider ist sie so verlogen und kitschig wie Vom Winde verweht. Und sie entkommt dem Bestätigungsfehler nicht. Der besteht darin, dass man seine Informationen so auswählt, dass man seine Meinung immer bestätigt sieht. Schlimmer noch: Dem Identitätspolitiker ist alles Identitätspolitik. Das nennt man auch totalitäres Denken.

Sollte man sich da nicht lieber etwas erzählen, das die Menschen zusammenbringt? Nun, dass sich Geschichten durchsetzen, das hat nicht immer mit ihrem Nutzen zu schaffen. Denn in der Hinsicht hat die Identitätspolitik nicht viel zu bieten. Oder sagen wir: Nur etwas für interessierte Kreise. Aber das heißt nicht, dass sich die Geschichte verbreitet wie das Corona-Virus. Denn unnütze und gefährliche Narrative waren schon öfter sehr populär, zum Beispiel Antisemitismus, Verschwörungsmythen oder Hexenglauben. Solange man nicht weiß, warum die Menschen überhaupt dem Irrglauben verfallen, und solange man kein Mittel gegen einseitiges Denken hat, solange werden solche Geschichten geglaubt. Insofern hat die Identitätspolitik noch eine gewisse Zukunft vor sich.

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Jedem seine Geschichte!

Der Philosoph, Jean-Francois Lyotard, hat die Postmoderne so definiert: Sie sei das Ende der einen großen Erzählungen zugunsten der vielen kleinen. Was aber ist nun eine große Erzählung? Es handelt sich dabei um eine sinnstiftende Geschichte, die der Gesellschaft hilft, Gemeinsamkeit herzustellen. Dem Einzelnen hilft sie, die Welt zu bewältigen und sich zurechtzufinden. Eine der ganz großen Geschichten, von der Lyotard in diesem Zusammenhang spricht, ist die Aufklärung. Bei der geht es um Fortschritt, Befreiung und Individualisierung. Mit der Postmoderne sei nun diese Geschichte auserzählt. Wenn das so ist, dann wäre zu fragen, welche von den kleineren neuen Geschichten denn so uns passt, wenn das Buch der Aufklärung zugeschlagen ist. Wie wäre es denn mit einer Revitalisierung der guten alten Opfergeschichte? Sie geht hierzulande so: Die Deutschen werden von Migranten versklavt, für die sie jetzt schuften müssen, während diese in der sozialen Hängematte liegen. Außerdem eignen sich Migranten einfach deutsche Kultur an. So spielen sie zum Beispiel im Tatort mit, was ungefähr das Heiligste ist, was das deutsche Fernsehen zu bieten hat. Einige von ihnen kleiden sich statt mit Palmenblättern mit Hugo-Boss-Anzügen. Schließlich maßen sich die Menschen mit Migrationshintergrund an, über deutsche Geschichte und Kultur zu sprechen, obwohl das eigentlich nur Deutschen zusteht. Die Opfergeschichte kommt ihnen bekannt vor? Klar, das ist die Geschichte der Identity-Policy-Aktivisten. Allerdings unter anderem Vorzeichen. Und sie ist so verführerisch, weil man als Opfer nicht nur schuldlos erscheint, sondern auch seiner tiefsitzenden Aggressivität freien Lauf lassen kann. Für mich ist diese Opfergeschichte allerdings nichts. Denn mit so einer Erzählung bekommt man nur einen schlechten Charakter. Warum? Nun, nichts ist widerlicher als rumzujammern, weil man mal als schief angesehen worden ist oder gefragt wurde, woher man kommt. Und nichts ist schlimmer, als sich dann seinem aus dem Opferstatus gespeisten Hass hinzugeben. Ich persönlich bevorzuge deshalb die Geschichte von der Skepsis. Die geht so: Jeder Geschichte hat einen blinden Fleck. Und den gilt es zu entdecken, damit man sich nicht am Ende einer Geschichte ausliefern muss. Das gilt auch für die Aufklärung. Und wie jedes Narrativ ist diese Geschichte der Skepsis nicht wahr im Sinne von true. Vielmehr hilft die Geschichte mir zurechtzukommen in einer Welt, in der es immer mehr Menschen gibt, die sich ihren Opfergeschichten hingeben und damit den wahren Opfern Hohn sprechen.

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