Ey, du Opfer!

Nietzsche sprach noch vom Übermenschen. Das Christentum war ihm dagegen die Religion der Schwachen, der Opfer. Die Zukunft sollte seiner Meinung nach dem Supermann gehören. Wie es aussieht, hat er sich geirrt. Wir leben im Zeitalter der Opfer, der Schwachen und ihres Kults.

Heute wollen alle Opfer sein und feiern das. Die Identitätspolitik macht es möglich. Ob Schwarzer, Frau oder Homosexueller, man hat Grund genußvoll zu jammern. Doch auch die alten weißen konservativen Männer weinen und klage mit Gusto. Dazu die Soziologin Eva Illouz in der FAZ: „Die Republikaner waren die Partei derer, die mit den Zähnen knirschten, sich niemals beschwerten, glücklich mit ihren Privilegien waren und ihre Emotionen kontrollierten. Das hat sich geändert. Nun fühlen sie sich als Opfer derer, die Menschen ihrer Redefreiheit berauben.“

Dass sie sich als Opfer fühlen, mag verständlich sein. Denn in der heutigen Gesellschaft zählt man nur, wenn man Opfer ist. Ein Opfer zu sein, das ist sozusagen das größte Distinktionsmerkmal der Postmoderne. Doch der Preis für dieses neue Ideal ist hoch. Denn um Opfer zu sein, muss man sich anhören wie ein Opfer. Und so klingen die Linke und Rechte heutzutage eben alle unfassbar weinerlich, auch wenn sich dabei gerechter oder ungerechter Zorn untermischt.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass noch vor wenigen Jahren Schwächlinge, oder solche, die man dafür hält, mit Opfer angesprochen wurden. Ihnen galt die Verachtung des Streetfighters. Aber die Opferpose oder vielmehr die Opferposse setzt sich durch und passt zu der heutigen Gesellschaft. Denn nichts entspricht besser der Kombination von Individualisierung bei gleichzeitiger Gruppenbildung als die Opferrolle. Sie ist sozusagen die Schnittstelle des Ich mit dem Wir.

So wie man sich früher eben als Deutscher oder Katholik gefühlt hat, so fühlt man sich jetzt als Opfer im Opferkollektiv, ohne in der Gruppe emotional vollkommen aufzugehen. Das Opfersein ist sozusagen das, was die Gesellschaft hervorbringt und zusammenhält.

Wird das so bleiben? Vermutlich nicht. Denn wenn nun alle Opfer sind, könnte es bald so weit sein, dass einige aus der Opferrolle aussteigen wollen. Immerhin ist ja nichts besonders daran, Opfer zu sein bei dieser Inflationierung. So wie alle zu sein, dass ist in einer Gesellschaft der Individuen, oder der Gesellschaft von Menschen, die sich für Individuen halten, vermutlich das größte Verbrechen. Zynismus wäre in diesem geistigen Umfeld eigentlich der nächste Schritt, um wieder als Mensch erkennbar zu werden, der kein Opfer sein möchte. Und natürlich das selige Gefühl der Verachtung.

Christian Kümpel

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Ich bin Opfer, also bin ich

Was haben einige Farbige und Donald Trump gemeinsam? Sie sind Opfer. Ständig jammern sie herum, wie schlecht sie behandelt werden. Und sie sind nicht die einzigen. Da gibt es noch die Transsexuellen, die Homosexuellen, die Harz-4-Empfänger und die AfD-Anhänger. Und was ist mit den Geimpften? Sind sie nicht auch Opfer? Irgendwie sind wir also alle viktimisiert. Und was folgt daraus? Sicher zweierlei. Wenn alle Opfer sind, dann muss man sich schon ein bisschen mehr anstrengen, wenn man als Opfer noch wahrgenommen werden will. Da helfen extreme Ansichten und Maßnahmen. Deshalb wohl die Dauerhysterie und die Identitätspolitik von links und rechts. Und dann muss man natürlich den anderen den Opferstatus absprechen. Das bekommen nun auch die Feministen zu spüren. Das es jedenfalls eine klare Opfer-Wertehierarchie gibt, dachte wohl auch Tschechow, der meinte: Vergiss nicht, dass es besser ist, Opfer zu sein als Henker. So kann man aber eigentlich nur reden, wenn man nicht wirklich geköpft wird.

Man könnte nun darüber spekulieren, warum es so attraktiv geworden ist, Opfer zu sein. Ich persönlich vermute, das fing mit Jesus an. Großes Opfer, große Belohnung. So sitzt er nun zur rechten Gottes. Aber auch in nicht-christlichen Kulturkreisen geriert man sich gerne als Victim. Die Gründe dafür sind vielfältig: Ein Opfer zu sein, das schafft Identität im Sinne von Einmaligkeit. Ich leide also bin ich. Dann bekommt man auch noch Aufmerksamkeit. Das ist die eigentliche Währung in einer Gesellschaft der Aufmerksamkeitsökonomie. Schließlich erhält man auf subtile Art und Weise Macht über andere, wirkt grundsätzlich unschuldig und gelangt auch zu moralischer Überlegenheit, die einem der Opferstatus zukommen lässt. Man wird Opfer und Richter in einem. Unsere postheroische Gesellschaft scheint das Opfersein so geradezu zu befördern. Vielleicht auch, weil man doch vom Tätervolk herkommt, das überwunden werden muss. Aber vielleicht ist es einfach auch nur eine zwangsläufige Entwicklung der Spätkultur. Vom kulturlosen Rüpel zum rüpelhaften Sensibelchen.

Erstaunlich wie anders da noch vor zwei, drei Generationen unsere Vorfahren waren. Ich denke da nur an Arnold Gehlen oder Ernst Jünger. Das waren gepanzerte Persönlichkeiten, die bis ins Mark das Kühle und Distanzierte pflegten. Sie personifizierten die Verhaltenslehre der Kälte. Man hätte sich verbeten, Opfer zu sein. Ob extreme Härte gegen sich selbst immer gut ist? Vermutlich nicht. Doch wie das immer so ist: Man überwindet das eine nicht ohne das Kosten anfallen. Man hat sicher das Männliche, Harte und Unbarmherzige hinter sich gelassen. Doch vor uns steht nun der Jammerlappen als Schwundstufe der Kultur, der zwischen Wut und Selbstmitleid hin und her schwingt und sich als Daueropfer geriert, der seinen Safe Space braucht. Die Identitätspolitik ist dabei nur die passende Ideologie für einen neuen Typus Mensch: der Pseudologe. Gehört ihm die Zukunft? Mit Sicherheit nicht. Die Sehnsucht nach dem Männlichen wird vermutlich wieder stärker. Und dann wird der Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen. Wann es soweit sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber irgendwann wird man der vielen Opfer überdrüssig. Und dann könnte es bitter werden.

Christian Kümpel

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Identitätspolitik hat keine Zukunft

Identitätspolitik, das ist die Politik, die nicht mehr den einzelnen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, sondern die Gruppe. Bei den Gruppen wird unterschieden zwischen Opfergruppen und Tätergruppen. So sind Frauen, Schwarze und Homosexuelle Menschen, die zu Opfergruppen gehören. Weiße Männer sind Täter. Viel ist dazu geschrieben worden, dass eine schwarze lesbische Millionärin, die an einer guten Uni studiert hat, kein Opfer sein kann. Dennoch lässt man sich das gefallen. Denn mit dem Opferstatus kommen Privilegien. Man bekommt im Idealfall schneller einen Job, mehr Sympathie, mehr Aufmerksamkeit der Medien und vor allem Respekt. Da ist es naheliegend, sich zum Opfer erklären zu lassen.

Während man früher meinte: Lerne leiden, ohne zu klagen, heißt es heute lerne leiden und laut darüber zu klagen. Das hat Folgen. Die Wehleidigkeit wird weiter zunehmen. Denn man kriegt schnell spitz, dass für Opfer einfach mehr drin ist. Das nennt man Rationalitätsfalle. Für den einzelnen ist es attraktiv, sich zum Opfer zu machen. Doch wenn alle Opfer sind, dann entwertet das den Opferstatus. Schlimmer noch, das Wort Opfer erlebt eine semantische Verschiebung. Opfergruppe bedeutet dann eher Interessengruppe oder Lobbygruppe.

Weil man die nicht unbegrenzte Ressource des Opferseins nicht beliebig vermehren kann, gilt es irgendwann, anderen den Status abzuerkennen. Am Ende wird man streiten, welcher Teint noch ausreicht, um als Opfer zu gelten und um als Verfolgter des „real existierenden Rassismus“ zu gelten. Ich empfehle daher, schon mal das Popcorn rauszuholen. Denn schon sehr bald wird es sehr unterhaltsam für alle, die „Täter“ sind.

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Jedem seine Geschichte!

Der Philosoph, Jean-Francois Lyotard, hat die Postmoderne so definiert: Sie sei das Ende der einen großen Erzählungen zugunsten der vielen kleinen. Was aber ist nun eine große Erzählung? Es handelt sich dabei um eine sinnstiftende Geschichte, die der Gesellschaft hilft, Gemeinsamkeit herzustellen. Dem Einzelnen hilft sie, die Welt zu bewältigen und sich zurechtzufinden. Eine der ganz großen Geschichten, von der Lyotard in diesem Zusammenhang spricht, ist die Aufklärung. Bei der geht es um Fortschritt, Befreiung und Individualisierung. Mit der Postmoderne sei nun diese Geschichte auserzählt. Wenn das so ist, dann wäre zu fragen, welche von den kleineren neuen Geschichten denn so uns passt, wenn das Buch der Aufklärung zugeschlagen ist. Wie wäre es denn mit einer Revitalisierung der guten alten Opfergeschichte? Sie geht hierzulande so: Die Deutschen werden von Migranten versklavt, für die sie jetzt schuften müssen, während diese in der sozialen Hängematte liegen. Außerdem eignen sich Migranten einfach deutsche Kultur an. So spielen sie zum Beispiel im Tatort mit, was ungefähr das Heiligste ist, was das deutsche Fernsehen zu bieten hat. Einige von ihnen kleiden sich statt mit Palmenblättern mit Hugo-Boss-Anzügen. Schließlich maßen sich die Menschen mit Migrationshintergrund an, über deutsche Geschichte und Kultur zu sprechen, obwohl das eigentlich nur Deutschen zusteht. Die Opfergeschichte kommt ihnen bekannt vor? Klar, das ist die Geschichte der Identity-Policy-Aktivisten. Allerdings unter anderem Vorzeichen. Und sie ist so verführerisch, weil man als Opfer nicht nur schuldlos erscheint, sondern auch seiner tiefsitzenden Aggressivität freien Lauf lassen kann. Für mich ist diese Opfergeschichte allerdings nichts. Denn mit so einer Erzählung bekommt man nur einen schlechten Charakter. Warum? Nun, nichts ist widerlicher als rumzujammern, weil man mal als schief angesehen worden ist oder gefragt wurde, woher man kommt. Und nichts ist schlimmer, als sich dann seinem aus dem Opferstatus gespeisten Hass hinzugeben. Ich persönlich bevorzuge deshalb die Geschichte von der Skepsis. Die geht so: Jeder Geschichte hat einen blinden Fleck. Und den gilt es zu entdecken, damit man sich nicht am Ende einer Geschichte ausliefern muss. Das gilt auch für die Aufklärung. Und wie jedes Narrativ ist diese Geschichte der Skepsis nicht wahr im Sinne von true. Vielmehr hilft die Geschichte mir zurechtzukommen in einer Welt, in der es immer mehr Menschen gibt, die sich ihren Opfergeschichten hingeben und damit den wahren Opfern Hohn sprechen.

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