Gesinnung

Andreas Dorschel, Philosoph, hat in der Januarausgabe des Merkur ein sehr lesenswertes Essay zum Thema Gesinnung geschrieben. Er stellt dabei zunächst fest, dass man im Wahlkampf zum Studentenparlament keine Ziele mehr verkündet, sondern Gesinnung ausstellt. “Wählt uns, dann wir sind die Guten!” Diese Ausstellung von Gesinnung sei nicht belangbar, denn für seine Gesinnung kann man nicht. Sie ist einfach da. Am besten als antifaschistische und antirassistische Haltung. Gesinnung suggeriert, dass, wenn alle sie teilen, alles gut werde. Wer einmal die Gesinnung hat, der sinnt nicht mehr. So erlaubt sie antiintellektuelles Intellektuellentum. Dabei fällt auf, dass man seine Gesinnung gerne mit der Vorsilbe „anti“ schmückt. Antisexistisch, antiheteronormativ, allerdings auch klimagerecht.

Nun wird niemand von sich behaupten sexistisch und rassistisch zu sein. Vielmehr wird auch derjenige, der es ist, das Gegenteil behaupten. Das kennt man ja aus der Vergangenheit, als die Puritaner ihre Gesinnung zeigten, aber nicht immer danach lebten. Als Voraussetzung braucht die Gesinnung die Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Doch in die Gesinnungsgemeinschaft schleicht sich etwas ein. Gesinnung, so möchte man ergänzen, ist der große Bruder der kleinen Schwester Heuchelei, die sich dazugesellt und für Unruhe sorgt. Dann in der Gemeinschaft der Gesinnten macht sich schnell der Verdacht breit. Schließlich kann man sich nie sicher sein, ob der andere seine Gesinnung nur vortäuscht, um Vorteile zu erlangen. Um jeden Verdacht zu zerstreuen braucht es deshalb die Gesinnungshuberei.

Doch wehe, wenn man was schiefgeht. Wenn man im Verhalten der edlen Gesinnung nicht immer entspricht, droht Reputationsverlust. Die Kosten der Gesinnung sind also nicht zu unterschätzen: Unfreiheit, Angst und Lüge. Als Voraussetzung für die Gesinnung braucht man außerdem eine gewisse Form von Bildung. Immerhin kennt nicht jeder das Wort heteronormativ. Auch muss man sich die Gesinnung leisten können, zum Beispiel durch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Dafür bekommt man im Falle einer Übernahme von Gesinnung das wohlige Gefühl, zu den Guten zu gehören.

Die Pointe nach Dorschel ist jedoch, dass Gesinnung nicht auf Gesinnungslosigkeit trifft, auch wenn das die Gesinnten gerne so hätten. Oft trifft man nur auf andere Gesinnungen, die man jedoch ablehnt. Das wahre Gegenteil von Gesinnung wäre jedoch laut Dorschel Sachlichkeit. Doch Sachlichkeit ist – so möchte ich den Text interpretieren – in einer Ich-bezogenen Gesellschaft, die Gesinnung zur Ich-Erweiterung braucht – kaum angesagt. Denn Sachlichkeit sieht vom Ich ab. Frei von Gesinnungen kann nur sein, wer über sie nachdenkt. Zumindest kann man sie sich ein wenig vom Leibe halten. Dorschel tut es auf vortreffliche Weise.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay

Macht und Methode

Wahrgenommen werden als der, der man ist… Man könnte da einwenden: Man ist nie ganz der, der man ist. Und man hat auch kein Recht darauf, zu bestimmen, wie man wahrgenommen wird. Aber folgen wir der Logik der Identitätspolitik. Wenn da ein Schwarzer steht oder geht, dann soll er in erster Linie als Schwarzer erkannt, respektiert und geachtet werden. Weil er eben ein Schwarzer ist. Dabei sei auch seine Kultur zu berücksichtigen. Was immer die im Einzelfall sein mag. Einerseits. Andererseits ist es irgendwie aber auch ganz falsch, den Schwarzen auf irgendeine Kultur festzulegen und seine Hautfarbe zu thematisieren. Da irgendwelche Bemerkungen zu machen wie: ich nehme mit Respekt ihre Hautfarbe zur Kenntnis und möchte an dieser Stelle meine Bewunderung für schwarzafrikanische Tänze zu Ausdruck bringen, können schwer ins Auge gehen. Immerhin spielen Hautfarbe und Kultur keine Rolle, irgendwie. Aber irgendwie dann wieder dann doch. Man könnte es auch so formulieren: Beachte das Schwarzsein und seine kulturellen Konnotationen immer, aber nimm es niemals wahr. Da kann man dann in der Tat sehr viel falsch machen.

Diese Botschaft erinnert dann doch sehr an die sogenannte Doppelbindung in der Psychologie. Eine Definition von Doppelbindung ist, dass man den Erwartungen des Senders nicht gerecht werden kann, weil widersprüchliche Signale gesendet werden. Dazu gehört auch, dass man, egal wie man sich verhält, bestraft wird. So wird man sowohl für das Nichtbeachten als auch für das Beachten sanktioniert, natürlich nur in Form einer moralischen Verurteilung. Zumindest noch. Schließlich gehört zur Doppelbindung, dass man nicht darauf hinweisen darf, dass man nicht etwas gleichzeitig beachten und nicht beachten kann. So kann man gleichzeitig zwei Ideen vortragen, die sich gegenseitig ausschließen, und Macht ausüben.

Aber wie? Was macht das eigentlich mit uns, wenn wir uns in so einem Dilemma befinden? Man ist meist wütend und gestresst. Doch irgendwann fängt man an, sich anzupassen. Man achtet ganz genau darauf, dass man nichts Falsches sagt. Man will eben kommunikative Probleme vermeiden. Und dann hat es eben das Dilemma seinen Sinn erfüllt. Das funktioniert auch bei der Identitätspolitik und ihren vermeindlichen Widersprüchen. Wie gut, sieht man daran, dass sich immer mehr vorsichtig verhalten, statt die kommunikativen Methoden der Identitätspolitik zu analysieren und in Frage zu stellen. Da hilft nur, einen Schritt zurückzugehen und die Dinge von außen zu betrachten. Ein guter Vorsatz für das Jahr 2022.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay

Kollateralschaden

Wieder einmal wurde in der Welt und in der FAZ thematisiert, dass es in Berlin in wachsendem Maße religiöse Konflikte gibt. Der Verein für Demokratie und Vielfalt hat jüngst eine entsprechende Umfrage dazu durchgeführt. Demnach sorgen strenggläubige Muslime dafür, dass in bestimmten Bezirken der Ramadan beachtet werden muss, Kopftuch getragen und weiblichen Lehrkräften nicht der gebotene Respekt erwiesen wird. Thomas Thiel schreibt in dem entsprechenden Artikel auch, dass Islamisten durch entsprechende Medienkanäle dafür sorgten, dass Schüler mit muslimischem Hintergrund in einer Art KZ in Deutschland leben müssten, was teilweise wohl geglaubt wird. 

Der Autor beklagt in seinem Artikel, dass sowohl Linke als auch Grüne entweder das Thema beschweigen oder als islamfeindlich einordnen. In der Tat hört sich das widersprüchlich an. Immerhin ist die Linke die Partei der Religionskritik. Wie kann das also sein, dass man sich auf die Seite der Islamisten schlägt? Die Erklärung liegt in der Identitätspolitik. Sie teilt die Menschheit in Opfer und Täter ein. Täter sind alte weiße Männer. Homosexuelle oder Schwarze sind Opfer. Und Muslime sind für Linke und Linksliberale ebenfalls Verfolgte.

Da ist man sich also mit den Fundamentalisten einig, die ja auch eine Diskriminierung der Muslime in Deutschland behaupten. Weil die Linken und Linksliberalen durch die Identitätspolitik in gewisser Weise umprogrammiert worden sind, können sie gar nicht erkennen, dass Fundamentalisten ihre Gegner sind, die die Werte der Aufklärung mit Füßen treten, Werte die die Linken und Linksliberalen angeblich vertreten. Schon gar nicht können sie deshalb den muslimischen Kindern helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dass frei ist von religiöser Unterdrückung. Im Gegenteil werden sie im Zweifelsfall Fundamentalisten und ihre Politik sogar verteidigen. Für moderate Muslime eine schlechte Nachricht. Denn von denjenigen, die sich für fortschrittlich halten, ist keine Hilfe zu erwarten. Dies sind eben die Folgen der Identitätspolitik, die vermeintlich Gutes will, leider auf Kosten der sogenannten Opfer. 

Christian Kümpel

Bild: Pixabay

1 7 8 9