Präsentismus, der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit

Präsentismus, der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit

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Jüngst hat sich ein amerikanischer Historiker, nämlich James Sweet, in die Nesseln gesetzt. Er meinte in einem Aufsatz, es sei falsch, die Vergangenheit durch die Linse der Gegenwart zu betrachten, https://www.insidehighered.com/news/2022/08/22/white-nationalist-enters-historians-debate-presentism. Das wurde prompt heftig kritisiert. Man lässt sich eben nicht gerne sein Spielzeug wegnehmen.

Die Frage, die sich mir dabei stellt, ist aber nicht, ob man Napoleon kritisieren darf. Von mir aus gerne. Die Frage ist doch eher: Woher kommt überhaupt das Bedürfnis, ständig den Stab über Emanuel Kant, Christopher Columbus oder Churchill zu brechen. Denn Kant wird nun des Rassismus bezichtigt, Columbus wird sozusagen als Zerstörer einer harmonisch geordneten Welt im Westen geframt und Churchill ist jetzt nur noch ein dicker, übler Kolonialist und Alkoholiker, dessen Statuen verhängt werden müssten. So denken unsere “Freunde”, die Identitätskrieger.

Die Antwort, die ich mir gebe, ist leider nicht sehr schmeichelhaft – für die Kritiker. Im Grunde sind Emanuel Kant, Christopher Columbus und Churchill gemessen an uns Normal-Sterblichen Übermenschen. Sie haben etwas gedacht und getan, dass die Welt verändert. Vielleicht aus Sicht mancher nicht zum Besseren. Aber was das Bessere und was das Schlechtere ist, darüber können wir Sterblichen uns kaum ein Urteil erlauben. Dafür gab es übrigens früher eine Instanz. Das war Gott. Er sollte am Ende der Geschichte ein Urteil fällen. Weil manche nun meinen, Sie wären an der Stelle von Gott, nehmen sie sich die Freiheit heraus, diese Größen zu kritisieren und den Stab über sie zu brechen. Doch damit übernehmen sie sich gewaltig.  

Bei den meisten Kritikern der Großen ist es nämlich so, dass es eigentlich egal ist, ob sie leben oder tot sind. Sie werden nicht viel bewegt haben, wenn sie abtreten. Sie sind im Grunde nur die die Echokammern ihrer Ressentiments. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die jedem einzelnen bescheinigt, jemand besonderes zu sein, sagen wir fast göttlich. Die Folge ist ein übersteigerter Narzissmus nicht nur bei Prominenten, sondern bei den meisten. Es ist eben nicht leicht, jeden Tag zu hören, man wäre speziell, während man ahnt, das man es nicht ist. Was Narzissten jedoch meist überhaupt nicht vertragen können, dass andere eine größere Bedeutung haben. Daraus erwächst das gute alte Ressentiment. Der Groll, der Ohnmächtigen, die im Grunde betroffen sind über die eigene Bedeutungslosigkeit, die sie aber ständig leugnen müssen. Es ist also der Mix zwischen dem Gefühl, jemand Großes zu sein, und der Tatsache, ein Niemand zu sein, der hier zum Tragen kommt

Was eignet sich besser als die Moral der kleinen Leute und ihre Großmannssucht, um die wahrhaft Großen anzugehen. Man meint, man wäre der Höhepunkt der menschlich-geistig-moralischen Entwicklung. Dabei gehört man zu den Zwergen, wie es so schön heißt, die auf den Schultern von Riesen stehen. Unsere Zwerge stehen allerdings nicht nur auf den Schultern. Sie spucken die Riesen ständig auf den Kopf.

Abschließend noch zur Frage, wie man im Gespräch bleibt. Denn zu dieser postmodernen Kultur der Selbstvergottung gehört schließlich nicht nur das Ressentiment, sondern auch der Dauer-Aufschrei der scheinbar Betroffenen. „Wenn Sie Schwierigkeiten haben, mit jemandem zu kommunizieren, suchen Sie nach Ressentiments. Sie müssen herausfinden, worüber Sie sich ärgern, und es ausdrücken und Ihre Forderungen explizit machen.“ So der Psychologe Fritz Perls. Das ist das passende Rezept für unsere traurige Zeit.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay


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