Identität als Last

Wenn man vor 500 Jahren einen Bauern nach seiner Identität gefragt hätte, dann wäre die Frage vermutlich nicht verstanden worden. Fest eingebunden in ein soziales Gefüge, gab es keine Möglichkeit, darüber nachzudenken, wer man denn eigentlich noch sein wollte außer Bauer. Dafür machte man sich vielleicht Gedanken darüber, wie eine Hexe beschaffen sein könnte, charakterlich und so. Der Blick auf sich selbst jedoch war eher trüb.

Heutzutage beschäftigt man sich fast ausschließlich mit sich selbst, und zwar bei gleichzeitiger Erweiterung der Möglichkeiten diese oder jene Person zu sein. Da hängt natürlich das Eine mit dem Anderen zusammen. Die denkbaren Ichs sind jedenfalls Legion. Daher das Glück, das natürlich auch ein Unglück ist, sich ständig die Frage vorzulegen, wer man denn eigentlich ist oder sein möchte. Sozusagen der Zwang, sich entwerfen zu müssen.

Um diese Frage zu beantworten, gibt es ein paar Grundsätze zu beachten. Der wichtigste lautet: Sei anders! Es ist zum Beispiel stinklangweilig, sich als heterosexuell zu konstruieren. Viel interessanter wäre es, pansexuell zu sein. Ebenfalls öde ist es, niemand in der Familie zu haben, der Migrationshintergrund hat. Rein deutsch zu sein, ist nämlich out. Schließlich noch die Berufsfrage. Elektriker geht gar nicht. Aber was ist mit Sozialpsychologie? Ja, diese Identität hat was. Die pansexuelle junge Frau mit französischen Wurzeln im Auslandssemester in New York, das ist schon mal eine Nummer.

Allerdings gibt es da immer noch dieses nagende Gefühl, man hätte doch lieber Kunst studieren sollen. Immerhin hat man da diese Ader. Und dass man nun seit zwei Jahren mit einem Typen zusammen ist, beschädigt das Selbstbild des sexuell Fluiden. Schließlich stellt sich noch heraus, dass der französische Opa im Algerienkrieg Gräuel begangen haben soll. Bitter.

Ich will jetzt um Gottes Willen nicht dem mittelalterlichen Ständestaat das Wort reden. Aber wie es scheint, hat Freiheit eben auch seine Schattenseiten. Denn wenn man nicht in eine Gesellschaft hineingeboren wird, sondern dem Zwang unterliegt, sich selbst zu entwerfen, dann kann das schon ins Auge gehen. Da darf nämlich nichts schief gehen, weil man ja nur ein Leben hat. Und man muss schön darauf achten, dass man die richtigen Schwerpunkte setzt. Manche sind von dieser Aufgabe überfordert und bekommen Depressionen. Andere nehmen die Herausforderung an, scheinen aber trotzdem irgendwie verwechselbar zu sein. Es ist am Ende eben eine Last, eine Identität zu besitzen, die einerseits Salienz zum Ziel hat, aber dieses Ziel nicht erreicht, weil Einzigsartigkeit gleichzeitig von Millionen gesucht und daher nicht gefunden wird. Am besten ist es da wohl, wenn man akzeptiert: Wer man ist, entscheidet auch heute die Gesellschaft. Nur ist es jetzt die Gesellschaft der Singularitäten.