Ich gebe sofort zu, dass ich nicht gut bin beim Thema Ambiguitätstoleranz. Zum Beispiel bereitet mir Conchita Wurst Unbehagen. Eine Frau, die ein Bart trägt, aber eigentlich ein Mann ist, löst bei mir keine positiven oder neutralen Gefühle aus, eher Ablehnung. Ebenso finde ich es befremdlich, wenn hübsche junge Frauen furchtbar fluchen. Schließlich gefällt es mir nicht, wenn kleine Kinder so reden, als wären sie erwachsen.
Damit gehöre ich wohl, wenn es nach der Sozialpsychologie geht, zu den Menschen, die Ambiguität nicht gut aushalten. Schlimmer noch. Nach Else Frenkel-Brunswik, die zu dem Thema geforscht hat, bin ich vermutlich in meiner Persönlichkeitsstruktur starr, unflexibel und zwanghaft. Zu solchen Menschen wurde nach dem Krieg geforscht, um die Gründe für den Aufstieg des Nationalsozialismus zu klären. Da kam dann einiges zu Tage. Das Ergebnis für mich: Vermutlich gehöre auch ich zu den autoritären Persönlichkeiten, die Adorno und andere für gefährlich hielten. Und tatsächlich weiß auch ich – im Gegensatz zu all den Selbstgerechten – nicht genau, wie ich 1933 gewählt hätte. Da bleibt immer ein nagender Zweifel, was meine überzeitliche negative Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus betrifft. Mit dem Makel der autoritären Persönlichkeit muss ich also leben.
Allerdings scheint es auch auf der linken Seite des politischen Spektrums nicht so weit her zu sein mit der Ambiguitätstoleranz. Einige können es kaum ertragen, dass der Philosoph Kant Dinge geschrieben hat, die nicht ganz so gut zu seinem Image als Aufklärer passen. Seiner Ansicht nach hätte das warme Klima den Afrikaner faul und weichlich gemacht. Sicher im Licht heutiger Erkenntnis eine eher abwegige Meinung. Aber reicht das schon, um Kant als Philosoph nicht mehr auszuhalten? Und was ist mit der Forderung, Straßennamen zu ändern, weil die Namensträger nicht immer politisch korrekt gehandelt haben? Zeugt das von einer offenen Persönlichkeit oder nicht vielmehr davon, dass man nur das Helle und das Dunkle kennt? Schließlich auch die Frage, welche Rückschlüsse es auf den Charakter zulässt, wenn man fordert, dass Welt-Literatur umgeschrieben werden muss, um den woken Ansprüchen zu genügen, weil darin das Wort N-Wort vorkommt. Und zwar in nicht-abwertender Absicht.
Man sieht also, dass die meisten es nicht so leicht haben mit der Ambiguitätstoleranz. Der autoritäre Charakter treibt überall sein Unwesen, sei es recht, links oder auch in der Mitte. Und vielleicht müssen wir lernen, auch das auszuhalten. Denn wie wäre es denn, wenn jedermann ein Ambiguitätstoleranter wäre, der alles problemlos schluckte? Wie könnte man das noch von Gleichgültigkeit unterscheiden? Wer alles aushält in einer Welt der kognitiven Dissonanzen, kommt sicher mit allem zurecht. Doch ist das erstrebenswert? Sollte man nicht auch mal sagen dürfen, dass man etwas nicht gut findet, auch wenn das nicht dem Zeitgeist entspricht? Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass man nicht zur Mimose wird und sich damit abfindet, nicht alles ändern zu können. Denn das wird man nicht. Und sonst kommt man in einer Welt, in der Conchita Wurst ein Sternchen ist, auch nicht über den Tag.