Ich bin in deinem Kopf

Aufmerksamkeit zu erhalten, das ist nicht einfach. Und deshalb ist Aufmerksamkeit wertvoll. Wenn man sie will, dann muss man sich schon was einfallen lassen.

Aufmerksamkeit zu erlangen, das ist schon deshalb erstrebenswert, weil man dann im Kopf des anderen ist. Und wenn man es richtig anstellt, dann ist man im Kopf von Millionen anderen.

Zur Aufmerksamkeit gehört natürlich, dass man es zulässt, dass der andere in den eigenen Kopf gelangt. Wie stellt man das an? Bei mir funktioniert das so: Jemand verkündet öffentlich, dass alte weiße Männer junge Frauen unterdrücken und dass die Lage der Frauen in Deutschland schlimmer wäre als die der Frauen in Afghanistan. Sofort ist man in meinem Kopf. Man hat mich wieder mal getriggert.

Und weil das so gut funktioniert, kann mich die Identitätspolitik jeden Tag bis in die Gehirnwindungen verfolgen. Ich verlange geradezu nach Nachrichten, die mit der ID-Politik zu tun haben. Vermutlich wird irgendwie mein Belohnungssystem angesprochen. Obwohl diese News mich nur immer unglücklicher machen.

So gesehen ist die Identitätspolitik nichts als der sehr erfolgreiche Versuch, mich zur Aufmerksamkeit zu zwingen, und zwar durch Ansichten, die mich empören.

In einer Welt, wo weder Geld noch Macht noch besonders erstrebenswert sind, ist Aufmerksamkeit durch Identitätspolitik das neue Gold. Zu Katzengold wird ID erst wieder, wenn niemand mehr getriggert wird, wenn einem diese ID-Ansichten egal werden. Wann wird es soweit sein?

Übrigens, das Prinzip funktioniert auch umgekehrt. Wer Aufmerksamkeit bei Linken will, muss nur mal andeuten, dass Frauen als Minister unfähig sind, was meistens stimmt. Schon ist einem für mindestens eine Woche die Aufmerksamkeit sicher. Und wie das immer so ist mit der Aufmerksamkeitsökonomie: Besser die Leute regen sich auf, als dass sie einen ignorieren. Das wäre der soziale Tod.

So weit, so schlecht. Leider gibt es aber einen weiteren Haken bei der Sache. Man muss die Dosis immer erhöhen, wenn man noch Aufmerksamkeit will. Das ist bei Drogen meistens so. Daher sind wir jetzt so weit, dass auch ein falscher Blick skandalisiert werden kann. Da ist es nicht mehr weit zur Behauptung, der andere begehen Gedankenverbrechen. Und wer könnte widerlegen, dass man Schwarzer sagt, aber Neger denkt? Man sieht also: Es gibt noch ein wenig Luft nach oben. Und ich kann mich noch eine Weile aufregen.  

Christian Kümpel

Bild: Pixabay

Wen befällt die Identitätspolitik?

Bestimmte Keime sind höchst ansteckend, wie wir jetzt wissen. Doch ist der eine mehr und der andere weniger gefährdet. Woher kommt das? Fragen wir mal versuchsweise, welche Voraussetzungen man haben muss, um schneller dem Virus der Identitätspolitik zu erliegen.

Zur Risikogruppe gehörten sicher zunächst einmal die Besserwisser. Befallene tadeln ständig und wollen zwanghaft anderen Bescheid geben. Gerne auch ungefragt. Und in der Tat hört man von den Identitätspolitkern ständig Kritik, allerdings wenig Skepsis, was die eigenen Thesen betrifft. Besserwisser müssen deshalb besonders aufpassen, wenn sie es mit Identitätspolitik zu tun haben, denn der Keim liebt diesen Wirt.

Aber auch die Selbstgerechten sind bedroht. Selbstgerechtigkeit besteht darin, anderen Boshaftigkeit zu unterstellen, während man sich selbst für einen Engel hält. Identitätspolitik ist gerade für den Selbstgerechten sehr gefährlich. Denn Selbstgerechte brechen heute wie besessen den Stab über Vergangenheit und Gegenwart, ohne noch erkennen zu können, dass man Maßstäbe anlegt, die auch nur ein historisches Produkt sind. Man wird dadurch also in gewisser Weise blind für seine eigene Bedingtheit und fängt an, auch Menschen, die einem nahestehen, mit den Symptomen schwer zu belasten.

Eng verwandt mit diesem Typus ist der Größenwahnsinnige. Er hält sich für Ankläger und Richter, die in einer Person zusammenfallen, indem er die Gesellschaft als strukturell rassistisch bezeichnet und gleich darauf als hoffnungslosen Fall verurteilt. Er tut dies vermutlich auch, um nicht selbst verurteilt zu werden, frei nach dem Motto: Wer richtet, kann nicht gerichtet werden. Auch für ihn gilt es, besonders vorsichtig zu sein. Denn der Großenwahnsinnige sitzt in der Petrischale, in der der Keim hervorragend gedeiht. In ganz schlimmen Fällen fängt man an, sich für eine Art Weltenrichter zu halten.

Personen, die ihre Überempfindlichkeit kultivieren, müssen ebenfalls aufpassen. Sie sehen in allen Äußerungen den möglichen seelischen Schaden, der angerichtet wird, besonders bei ihnen selbst, statt sich mal zu fragen, warum sie so empfindlich sind. Schlimmer noch, sie wollen die Redefreiheit einschränken, um ja nicht mal belastet zu werden. Und natürlich entscheiden nur sie allein, was belastend sein könnte. Das sie andere mit ihrer Überempfindlichkeit anstrengen, kommt ihnen nicht in den Sinn, denn sie drehen sich nur um sich selbst.

Und was ist mit dem Ohnmächtigen? Der Ohnmächtige hat normalerweise nicht viel zu melden. Aber wenn er andere als Rassisten, Sexisten oder Faschisten denunzieren kann, dann tut er das, um an der Macht teilzuhaben. Das schöne Gefühl, klügere und mächtigere vorzuführen, das ist ihm ständige Versuchung. Die Identitätspolitik bietet ihm da viele Anlässe.

Nicht vergessen sollte man auch den Opportunisten, der nicht anders kann, als sich immer an der Macht zu orientieren. Viele machen sich die Forderungen der Identitätspolitik zu eigen, weil sie denken, dass die Verhältnisse nun man so sind, zum Beispiel an der Universität. Da schwimmt man dann mit dem Strom. Manchmal solange, bis man fälschlicherweise glaubt, selbst die Richtung bestimmen zu können. 

Natürlich sind die Ursachen für Identitätspolitik vielgestaltig. Aber ID muss auf charakterlich geeignete Menschen treffen, um seine volle Wirkung zu entfalten. Diejenigen, die skeptisch sind, auch sich selbst gegenüber, gehören sicher nicht zu den typischen Opfern der ID-Pandemie. Sie genießen eine gewisse Immunität. Dass es, wie behauptet wird, demnächst einen Impfstoff gegen ID geben soll, ist nicht wahr. Doch jeder, der sich kritisch mit Ideen, auch denjenigen, die ihn befallen haben, auseinandersetzt, hat eine gute Chance auf Immunität. Ich wünsche weiterhin gute Gesundheit.  

Christian Kümpel

Bild: PIxabay