Optische Täuschung

Es gibt da ein Phänomen, für das ich kein rechtes Wort kenne, welches aber weit verbreitet ist. Ich würde es versuchsweise als emotionale Disproportionalität bezeichnen. So eine emotionale Unverhältnismäßigkeit findet man häufig dann, wenn großes Unrecht eher kaum beachtet wird, jedoch an anderer Stelle in kleinerer Form ganz Gesellschaften erschüttert. So ist es beispielsweise bemerkenswert, dass der Tod von Georg Floyd durch das massive Fehlverhalten der US-amerikanischen Polizei so ein großes Echo fand – auch in Deutschland – obwohl Floyd kein Deutscher ist, kriminell war und eigentlich keine Besonderheit aufwies, außer schwarz zu sein. Der massenhafte Tod in Syrien dagegen, scheint hierzulande kaum jemand seelisch aufzuwühlen.

Was könnten die Gründe sein? Zum einen ist es sicher nicht unbeachtlich, dass der Tod des Schwarzen gefilmt wurde. So wurde für alle sichtbar, welche Ungeheuerlichkeit dort geschah. Denn es ist in der Tat furchtbar zu sehen, wie ein Mann erstickt wird, der um sein Leben bettelt. Dazu kam die Erzählung von dem Fass, das übergelaufen ist. Das Narrativ geht so: In den USA sterben täglich Schwarze durch weiße Polizei, weil es Rassismus gibt. Dieser Tote war nun der eine Tote zu viel. Und wie es immer so mit Narrativen ist, sie sind fest in unseren Köpfen verankert, obwohl sie nur lose mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Laut der Website von Statista sterben seit 2015 35 Schwarze auf eine Millionen Einwohner durch die Polizei. Bei Weißen liegt die Zahl bei 14. Allerdings gehen dreimal mehr Schwarze pro eine Million Einwohner ins Gefängnis als Weiße. Natürlich kann man diskutieren, welche Gründe es für diese Ungleichheit gibt. Aber was man deutlich sieht: Schwarze kommen häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Ist es da überraschend, dass sie auch häufiger erschossen werden? Seit Jahren gibt es übrigens mehr Schwarze in der Polizei, aber nicht weniger Gewalt gegen Schwarze. Spricht das für massiven Rassismus? Eher dafür, dass es in den USA eine grundsätzliche Härte bei der Polizei gibt. Das soll nicht heißen, dass die Polizeikräfte in den USA keinen Rassismus kennen. Doch George Floyd ist wohl in erster Linie deshalb gestorben, weil sich die Polizei in den USA seit den 80igern stark brutalisiert hat.

Doch was noch viel bemerkenswerter ist: Andere Formen von Ungerechtigkeiten können offensichtlich mit der Gewalt im Falle von Georg Floyd nicht mithalten, obwohl diese nicht unwesentlich sind. Zum Beispiel der Syrienkrieg. Im Jahre 2018 kamen in Berlin 100 Leute zusammen, um gegen den Syrienkrieg zu demonstrieren. Bei der BLM-Demo Black waren es zwei Jahre später 2000. In Syrien werden durch russische Piloten Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen bombardiert mit unfassbaren Folgen. Was könnte nun erklären, warum manche wegen George Floyds so wütend sind, aber im Falle des tausendfachen Todes in Syrien eher mit den Schultern zucken.

Nun die Lager für Uiguren in China, die Kriegsopfer in Syrien und die Kinderarbeit in Pakistan kommen einfach auf der Empörungsskala nicht an den Tod von Georg Floyd heran, weil die Menschen nicht perfekt sind. So wie sie wegen eines organischen „Konstruktionsfehlers“ leicht optischen Täuschungen unterliegen, so unterliegen sie auch moralischen Täuschungen und können die Proportionen nicht erkennen. Bei Moral und Empörungen kommt es außerdem sehr stark auf Moden und Strömungen an, nicht auf das Leid, das erfahren wird. Und zurzeit ist eben Rassismus in aller Munde. Man sollte wissen, dass man seiner Moral genauso wenig trauen darf wie seiner Erinnerung oder seinen Augen. Denn Moral braucht eine Geschichte, um uns zu empören. Die von dem Tod durch Rassismus einfach eingängiger als die von dem hundertfachen Tod in Syrien durch russische Jets. Und schließlich gibt es noch den Kieseleffekt: Man versucht sich als Mensch lieber an einem kleinen Stein als an einem Felsen, den man eh nicht heben kann. Wenn man dann den Kiesel in der Hand hält, glaubt man, ein Herkules zu sein. Black Lives Matter wäre der Kiesel, der leichter zu heben ist. Und so bleibt am Ende mit Stalin, einem Menschenkenner erster Güte, nur festzustellen: “Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur Statistik.” Klingt komisch, ist aber so.

Bild von 愚木混株 Cdd20 auf Pixabay