Herrn Müllers neue Kleider

Humor ist vielfältig. Man erinnert sich an den Blauen Engel. Ein Lehrer, der sich autoritär aufspielt, verfällt einer Sängerin und macht sich zum Narren. Das Komisch-Tragische daran ist, dass von einem Moment auf den nächsten der Mensch lächerlich wird, wenn er aus der Rolle fällt. Uns wird in dem Moment unbewusst bewusst, dass die Fassade gefährdet ist und vielleicht lachen wir darüber, wenn andere Haltung verlieren, weil wir erleichtert sind, dass es uns (noch) nicht passiert ist, sondern einem Dritten. Manche beginnen fangen dann an und meinten, darüber dürfe man nicht lachen. Denn sie empfinden es als tragisch, wenn andere als Depp dasteht. Wir selbst fürchten ja schließlich auch den Verlust der Fassade und das Urteil der anderen. Das solle man wohl solidarisch sein, denken die Gutmeinden.

Ein wenig anders verhielte es sich, wenn ein Lehrer am Montag nach den großen Ferien in Frauenkleidern in die Schule käme. Herr Müller, Deutschlehrer der 5a, trägt plötzlich Makeup, Pumps und passend zu Jahreszeit ein luftiges Sommerkleid in grellen Farben. So tritt er dann also vor die Eltern am ersten Elternabend Ende August. Dazu erklärt uns der Direktor der Schule, der ebenfalls anwesend ist, dass Herr Müller nun Frau Müller sei. Und so hätten wir Frau Müller auch anzureden. Täten wir es nicht, dann drohte uns eine Strafe. Falls jemand dieses Beispiel für konstruiert halten sollte, der sollte sich mit dem Thema „Deadname“ beschäftigen. So ist es neuerdings strafbar, eine Person, die einen männlichen Vornamen hatte, diese weiterhin mit diesem zu bezeichnen, wenn dies von dieser Person nicht gewünscht wird.

Da sitzen wir nun im Klassenzimmer und sind gelähmt. Das mit dem Namen ist ja noch die einfachste Übung. Denn darüber hinaus wird von uns nicht direkt, aber dafür deutlich, verlangt, dass wir das nicht komisch finden dürfen. Aber so fühlen wir gar nicht. Eigentlich möchte man lachen, denn da fällt jemand aus der Rolle. Andere möchten vielleicht weinen, weil ihnen Müller leid tut. Weil man jedoch selbst Angst hat, man würde als Deadname-Verbrecher kenntlich, erstarrt man innerlich. Jeder für sich, denn die kollektive Lüge macht bekanntlich einsam.

Doch wenn man nun so tut, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass Müller im Frauenfummel antritt, und als Frau bezeichnet werden will, dann wird es auf der nächsten Ebene komisch oder tragisch. Die Komik oder Tragik besteht nämlich auch darin, dass man nun ein Schauspiel aufführt, dass für den Beobachter klar als Schauspiel kenntlich ist, aber auf keinen Fall als Schauspiel bezeichnet werden darf. Herr Müller tut so, als ob er eine Frau wäre, und wir tun so, als ob wir das glaubten.

Kommt uns das bekannt vor? Ich jedenfalls glaube, dass die Geschichte von dem Kaiser und seinen neuen Kleidern wieder aufgeführt wird. Und ganz so wie in der Geschichte kommt es auch hier zu einer Auflösung durch ein Kind. Denn Hansi Großmann, bekannt für sein vorlautes Mundwerk, verkündet, bevor man ihn stoppen kann: Aber Herr Müller, sie sind doch gar keine Frau! Sie haben sich doch nur als Frau verkleidet!!!

Machen Sie sich jetzt bitte keine Sorgen um Hansi. Denn Kinder dürfen auch weiterhin die Wahrheit sagen, ohne dass ihnen eine Geldstrafe oder gar Gefängnis droht. Nur wir Erwachsenen müssen wohl lernen, uns noch besser zu verstellen und unsere Kinder im Lügen zu schulen.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay