Aus Schuld Gold spinnen

Wer die Welt verstehen will, braucht Bilder. Bei mir ist bei der Lektüre des Buches „Global gescheitert“ von Susanne Schröter so ein Bild im Kopf entstanden. Sie erklärt, wie Schuldgefühle das Einfallstor für die Identitätspolitik sind. Die wiederum ein Werkzeug ist, um sich die Pfründe zu sichern.

Und mein Bild im Kopf? Da ist ein alter weißer König, der sich immer schuldig fühlt. Schon morgens beim Frühstück bedrückt ihn dieses Gefühl. Mittags sitzt er, lustlos im Essen rumstochernd, am Tisch. Abends geht er mit Schuldgefühlen ins Bett. Seine Berater erklären ihm, dass sein Vater nicht immer moralisch einwandfrei agierte. Aber er selbst sei fraglos kein böser Mann. Überhaupt habe sich das Königreich sehr gut entwickelt. Er solle einfach mehr an die frische Luft. Dann werde das Gefühl schon vergehen.

Eines Tages nun kommt ein neuer Berater frisch von der Hexenwerkstatt. Die anderen Berater halten ihn für einen Scharlatan. Doch erklären sie ihn und seine Lehren für harmlos. Als den alten König wieder die Schuldgefühle plagen, trifft er hinter dem Schloss auf den neuen Berater. Der erkennt seine Chance und erklärt ihm geradeheraus, dass er, der König und seine Familie Verbrecher sind.

Doch statt nun böse zu sein, wie man es erwarten dürfte, ist der König sehr erleichtert. Endlich versteht er, woher die Schuldgefühle kommen. „Natürlich bin ich ein Verbrecher!“, ruft er freudig aus. „Nun verstehe ich mich und meine Gefühle endlich besser. Doch wie bekomme ich nun Hilfe?“, fragt er den neuen Berater. Dieser weiß guten Rat: „Sie müssen ihre Verbrechen anerkennen. Denn nur wer dies tut, hat eine Möglichkeit erlöst zu werden. Und ihre Verbrechen sind zahlreich. Dazu müssen sie noch mehr Berater wie mich einstellen, die die Verbrechen aufdecken, von denen sie vielleicht noch gar nichts ahnen, und ihnen dann weitere Hinweise geben. Und die alten Berater müssen gehen, wenn sie sich nicht der neuen Linie anpassen. Immerhin haben sie Ihnen stets den falschen Weg gewiesen.“

Die meisten alten Berater passen sich allerdings schnell der neuen Linie an und übertrumpfen den neuen Berater noch in Schuldvorwürfen gegen den König. Denn sie verstehen: Nur der kommt jetzt weiter, der die Schuld des Königs durch schreckliche Verbrechen erklären kann, die täglich neu ans Tageslicht kommen. Doch schon bald müssen auch die Berater aufpassen, sich nicht den ständig wechselnden Vorwürfen nicht auszusetzen. Denn nicht allein der König kann schuldig sein. Heute ist ein Verbrecher, wer Kaffee schwarz trinkt. Morgen kann es derjenige sein, der Tee mit Zucker schlürft. Und wer weiß, wer übermorgen dran ist. Am meisten Prestige hat derjenige, der die gröbsten neuen Vorwürfe in den Raum wirft.

Der König sieht dabei wohl, dass in den Nachbarkönigreichen die Menschen geknechtet werden. Dort geht es noch zu wie bei seinen Vorfahren. In seinem Königreich hat es dagegen das gegeben, was die Menschen Fortschritt nennen. Doch darauf ist er nicht stolz. Stolz ist er vielmehr darauf, dass ihn keiner im Schuldigsein übertreffen kann. Denn seine Verbrechen und die seiner Vorfahren wären doch die schlimmsten gewesen, meint er.

Auch der neue Berater ist zufrieden. Der König hört nur noch auf ihn und seine Leute. Er und seine Berater kujonieren bald den gesamten Hof. Und sie leben nicht schlecht von den Schuldgefühlen des Königs und der einiger Bürger, die den König nacheifern. Der König beschäftigt sich allerdings bald nur noch mit seiner Vergangenheit und der Aufarbeitung seiner Schuld und lässt die Staatsgeschäfte immer weiter schleifen, während sich die Berater mästen.  

Da werden einige Bürger des Reiches unzufrieden. Sie protestieren gegen die sehr einseitige Darstellung des Landes. Sie begehren auf. Der Berater erkennt die Gefahr. Schnell erklärt sie der Berater zu Feinden des Reiches, ja der ganzen Menschheit, als endlich …

Ja, wie geht die Geschichte nun weiter? Ich vermute, entweder wird der König noch schlau oder er muss weg. Denn ansonsten ist das Land für alle Zeiten dem bösen Berater und seinen Helfershelfern ausgeliefert.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay

Herrn Müllers neue Kleider

Humor ist vielfältig. Man erinnert sich an den Blauen Engel. Ein Lehrer, der sich autoritär aufspielt, verfällt einer Sängerin und macht sich zum Narren. Das Komisch-Tragische daran ist, dass von einem Moment auf den nächsten der Mensch lächerlich wird, wenn er aus der Rolle fällt. Uns wird in dem Moment unbewusst bewusst, dass die Fassade gefährdet ist und vielleicht lachen wir darüber, wenn andere Haltung verlieren, weil wir erleichtert sind, dass es uns (noch) nicht passiert ist, sondern einem Dritten. Manche beginnen fangen dann an und meinten, darüber dürfe man nicht lachen. Denn sie empfinden es als tragisch, wenn andere als Depp dasteht. Wir selbst fürchten ja schließlich auch den Verlust der Fassade und das Urteil der anderen. Das solle man wohl solidarisch sein, denken die Gutmeinden.

Ein wenig anders verhielte es sich, wenn ein Lehrer am Montag nach den großen Ferien in Frauenkleidern in die Schule käme. Herr Müller, Deutschlehrer der 5a, trägt plötzlich Makeup, Pumps und passend zu Jahreszeit ein luftiges Sommerkleid in grellen Farben. So tritt er dann also vor die Eltern am ersten Elternabend Ende August. Dazu erklärt uns der Direktor der Schule, der ebenfalls anwesend ist, dass Herr Müller nun Frau Müller sei. Und so hätten wir Frau Müller auch anzureden. Täten wir es nicht, dann drohte uns eine Strafe. Falls jemand dieses Beispiel für konstruiert halten sollte, der sollte sich mit dem Thema „Deadname“ beschäftigen. So ist es neuerdings strafbar, eine Person, die einen männlichen Vornamen hatte, diese weiterhin mit diesem zu bezeichnen, wenn dies von dieser Person nicht gewünscht wird.

Da sitzen wir nun im Klassenzimmer und sind gelähmt. Das mit dem Namen ist ja noch die einfachste Übung. Denn darüber hinaus wird von uns nicht direkt, aber dafür deutlich, verlangt, dass wir das nicht komisch finden dürfen. Aber so fühlen wir gar nicht. Eigentlich möchte man lachen, denn da fällt jemand aus der Rolle. Andere möchten vielleicht weinen, weil ihnen Müller leid tut. Weil man jedoch selbst Angst hat, man würde als Deadname-Verbrecher kenntlich, erstarrt man innerlich. Jeder für sich, denn die kollektive Lüge macht bekanntlich einsam.

Doch wenn man nun so tut, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass Müller im Frauenfummel antritt, und als Frau bezeichnet werden will, dann wird es auf der nächsten Ebene komisch oder tragisch. Die Komik oder Tragik besteht nämlich auch darin, dass man nun ein Schauspiel aufführt, dass für den Beobachter klar als Schauspiel kenntlich ist, aber auf keinen Fall als Schauspiel bezeichnet werden darf. Herr Müller tut so, als ob er eine Frau wäre, und wir tun so, als ob wir das glaubten.

Kommt uns das bekannt vor? Ich jedenfalls glaube, dass die Geschichte von dem Kaiser und seinen neuen Kleidern wieder aufgeführt wird. Und ganz so wie in der Geschichte kommt es auch hier zu einer Auflösung durch ein Kind. Denn Hansi Großmann, bekannt für sein vorlautes Mundwerk, verkündet, bevor man ihn stoppen kann: Aber Herr Müller, sie sind doch gar keine Frau! Sie haben sich doch nur als Frau verkleidet!!!

Machen Sie sich jetzt bitte keine Sorgen um Hansi. Denn Kinder dürfen auch weiterhin die Wahrheit sagen, ohne dass ihnen eine Geldstrafe oder gar Gefängnis droht. Nur wir Erwachsenen müssen wohl lernen, uns noch besser zu verstellen und unsere Kinder im Lügen zu schulen.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay