In welches Subsystem gehört systemischer Rassismus?

Systemische Probleme betreffen bekanntermaßen das ganze System. Doch was ist ein System? Ein Beispiel wäre, wenn man Niklas Luhmann folgt, die bundesrepublikanisch Gesellschaft. Sie ist ein System, das aus vielen Untersystemen zusammengesetzt ist, die wiederum ihr eigenes Betriebssystem haben. Ein Beispiel gefällig? Da gibt es die bundesdeutsche Wirtschaft. Sie funktioniert nach dem Prinzip Geld verdienen – Geld verlieren. Das Prinzip Liebe oder Hass dagegen, würde das System nur kontaminieren. Wer will, dass die Wirtschaft funktioniert, wird daher tunlichst daran arbeiten, das Betriebssystem von solchen „Verschmutzungen“ sauber zu halten. Denn Liebe und Hass haben in der Wirtschaft nichts zu suchen. Dann sprechen wir auch von dem Subsystem Politik. Dort funktioniert das System nach dem Modell Macht haben oder machtlos sein. In der Politik wäre demnach das Programm Moral – Unmoral fehl am Platze. Dieses ist besser im Bereich Religion aufgehoben. Aus all diesen Subsystemen mit ihren Operationsbedingungen setzt sich nun das Gesamtsystem zusammen. Das arbeitet eigentlich nur nach mit dem Prinzip funktioniert oder funktioniert nicht. Und am besten funktioniert das Ganze, wenn die Subsysteme auch funktionieren. Es funktioniert schlecht, wenn ein Subsystem das andere zu sehr beeinflusst, so dass es seine Funktion verliert.

So weit, so gut. Doch nun erfahren wir von Frau Saskia Esken (SPD), dass Deutschland systemisch rassistisch sei. Stimmt das? Ist es so, dass Menschen, die keine deutsche Herkunft haben, in ein Geschäft gehen und nicht bedient werden, weil sie Migrationshintergrund haben oder dunkelhäutig sind? Wohl kaum. Denn man will ja Geld verdienen. Da wäre Rassismus nur hinderlich. Und ist es so, dass Menschen mit Migrationshintergrund keine Macht hätten? Da fallen mir sofort einige Politiker ein, die durchaus fremdländisch klingende Namen haben und hier großen Einfluss ausüben. Doch wie ist es im Bereich Sicherheit? Hier scheint ja alles klar zu sein, denn in diesem Subsystem werden Schwarze häufiger verhaftet, als zu vermuten wäre?

Nun hat uns der radikale Konstruktivismus einiges gelehrt. Zum Beispiel, dass wir die Welt um uns „konstruieren“, weil wir gar nicht anders können. Wenn mein Nachbar mich auf der Straße nicht grüßt, dann frage ich mich unwillkürlich, ob ich etwas gesagt oder getan habe, was ihn veranlasst hat, mir nicht Guten Tag zu sagen. Und dann fällt es mir ein, dass ich ihm nicht zu seinem neuen BMW gratuliert habe, der seit zwei Wochen vor der Garage steht. Darauf denke ich, dass das nun wirklich affig ist, wegen so einer Lappalie seine gute Kinderstube zu vergessen. Dann nehme ich mir vor, meinen Nachbarn darauf anzusprechen. Und ehe ich mich versehe, stehe ich vor seiner Tür und klingele. Schließlich schnauze ich ihn an: „Nur weil ich ihren Scheiß-BMW übersehen habe, lassen Sie mich aussehen wie ein Idiot! Jetzt reicht es aber!!!“ Es könnte durchaus sein, dass der Nachbar einfach nur in Gedanken war. Warum ziehe ich das nicht in Betracht? Warum konstruiere ich sozusagen die Realitäten falsch? Aus demselben Grunde, warum gewisse Politiker nicht in Betracht zieht, dass ein Schwarzer von der Polizei angehalten werden kann, weil verdächtig ist. „Er verhaftet ihn nur, weil er ein Schwarzer ist und nicht, weil der Park nebenan voll ist mit afrikanischen Drogendealern.“ Das wäre in der Kognitivforschung ein klassischer Attributionsfehler. Und der ist eng verwandt mit der sogenannten Verschwörungstheorie. Und genau so hört es sich an, wenn man meint, dass nicht einzelne Polizisten rassistisch seien, sondern die Polizei systemisch rassistisch agiere.

Mit all dem ist nicht gesagt, dass ich für alle Polizisten meine Hand ins Feuer legen würde. Doch zu einem systemischen Rassismus gehört eben mehr, als dass der eine oder andere Akteur rassistisch fühlt und handelt. Und wie wäre denn das bundesdeutsche System von dem Südafrika der Apartheid noch zu unterscheiden, wenn man behauptete, hier ginge es so zu wie unter Pieter Botha in Südafrika, wo man in der Tat von systemischem Rassismus sprechen konnte? Denn dort wurde alles unter dem Blickwinken weiß oder nicht weiß gesehen. Vielleicht weiß das auch eine Saskia Esken, ihres Zeichens Vorsitzende einer immer noch mittelgroßen bundesdeutschen Partei. Dann hätte sie allerdings nicht die Dinge falsch gedeutet, sondern bewusst falsch dargestellt. Doch das führte zur Frage, warum Leute wie sie ihr Land als systemisch rassistisch beschreiben, obwohl sie es besser wissen müssten. Nur so viel: In der Politik funktioniert das Betriebssystem im Modus Macht haben oder machtlos sein. Das hat Frau Esken sicher verstanden.

Bild: Arek Socha

Sie sind aber schön braun!

Farbige sollte man nicht auf ihre Hautfarbe ansprechen. Bemerkungen wie: „Waren Sie im Urlaub?“, „Kommen Sie aus Afrika?“ oder „Im Klimawandel haben Menschen mit ihrer Hautfarbe einfach bessere Karten“ sind unerwünscht. Allerdings wäre es vollkommen falsch, so zu tun, als hätte das Gegenüber überhaupt keinen Teint. Denn wie wir gelernt haben, gehört ja die Bräunung zur positiven Identität des Gegenübers. Das Problem ist also, dass man etwas sieht, was gesehen werden soll und positiv konnotiert ist, aber irgendwie nicht bemerkt werden darf. Wie geht man damit jetzt um? Hier hilft, wie bei allen Fällen der Doppelbindung, sich ein paar einfache Verhaltensweisen zurechtzulegen. Machen wir uns zunächst klar, dass man immer gerne mit Schuldgefühlen arbeitet. Diese machen uns manipulierbar. Man sollte sich daher immer wieder Folgendes sagen: Ja, ich sage manchmal Dinge, die anderen nicht gefallen. Das nennt man Freiheit. Und wenn es den anderen nicht gefällt, dann haben sie die Freiheit, mir das zu sagen. So vermeiden sie, sich schuldig zu fühlen und am Ende mit merkelmäßige Entschuldigungen zu kommen. Sie sollten sich außerdem klar machen, dass man es gerne hat, sie in Paradoxe zu verstricken, um sie zu manipulieren. Das kennen sie ja von ihrer Frau, die ihnen etwas kocht, von der sie weiß, dass es ihnen nicht schmeckt, um dann zu fragen, wie es schmeckt. Hier sollten sie sich klar machen, dass Ehrlichkeit am längsten währt, sonst müssen sie diese Pampe immer wieder essen. Eine andere Diskurswaffe, die leider viel zu wenig genutzt wird, ist der gesunde schwarze Humor. „Was ist schwarz und knistert?“ (Auflösung in der nächsten Folge.) Schließlich könnten sie auch mal ihr Gegenüber spiegeln, indem sie ihm vorwerfen, gar nicht bemerkt zu haben, was für eine schöne pinke oder schweinsfarbige Haut sie haben. Und wenn er es doch tut, ihn einen Rassisten schimpfen. Eine letzte Möglichkeit wäre es, Farbige ganz zu meiden. Dann kommt man gar nicht erst in die Verlegenheit, etwas Falsches zu sagen. Ich würde hier aber differenzieren. Wenn ein Farbiger anfängt, sie doppelbindungsmäßig zu bearbeiten, dann brechen sie das Gespräch einfach ab mit der Begründung, sie müssen noch einen Bericht über schwarze afrikanische Sklavenfänger im 18. Jahrhundert schreiben. Wenn sie aber merken, dass der andere nicht wehleidig tut, sondern einfach eine nette Person ist, dann laden sie ihn auf ein Bier ein. Es kann auch gerne ein Schwarzbier sein.

Bild: Berkemeyer

Auch wir haben eine Identität

Aydan Özoğuz, die ehemalige Beauftragte für Flüchtlinge, Migration und Integration brachte es auf den Punkt: „… eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ Sie meinte damit, so verstehe ich es jedenfalls, dass in einem Land, wo Deutsche türkisch, russisch und arabisch denken und fühlen, es eigentlich nichts mehr gibt, was noch speziell deutsch wäre. Und es stimmt ja auch: Wenn alles deutsch ist, ist eben nichts mehr deutsch. Wenn man nun Deutschland als Volk der unspezifischen Kultur beschreibt, so sollte man jedoch den Deutschen mit türkischen, russischen und arabischen Wurzeln eine besondere Kultur nicht absprechen. Und das würde Özoğuz auch nie tun. Doch was ist mit dieser anderen Gruppe, die keinen Migrationshintergrund vorweisen kann? Was macht die eigentlich aus? Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, zwei Künstler aus Deutschland, haben hier einen Begriff geschaffen, der die begrifflichen Nebel hebt und unsere Identität ins helle, oder besser grelle Licht stellt: Nazihintergrund. Dieser Begriff verdeutlicht, dass eine Gruppe in diesem Land eine bestimmte Herkunft hat, die nicht geteilt werden kann und wahrscheinlich auch nicht geteilt werden soll. Nun heißt es schon seit Jahren, dass die 12 Jahre für immer prägen, egal wie viel Zeit vergeht. Es heißt auch, dass das neue Deutschland, die Bundesrepublik, sozusagen der Gegenentwurf zu Nazideutschland sei. Es gehe darum, sich zu Verantwortung für diese Zeit zu bekennen. Und so ist es tatsächlich gelungen, ein neues Wir zu schaffen: Deutsch sein, heißt anzuerkennen, dass es immer darum gehen muss, dies Nazi-Zeit fruchtbar zu machen, indem man einen Gegenentwurf lebt, der allerdings immer mit der Vergangenheit verbunden ist. Nazi-Deutschland wird so der Ausgangspunkt von allem, was Deutschland heute ausmacht und immer schon dadurch ein Teil davon, so wie bei der Muschel eine Perle wächst, die das Üble sozusagen umhüllt und verschönert, wobei das Üble eben nicht vergeht, sondern ein Teil der Perle bleibt. Moshtari Hilal und Sinthujan Vratharajah haben nun diese deutsche Geschichtsphilosophie beim Wort genommen und erkannt, was dieses Menschen hier ausmacht. Und darüber kann sich eigentlich niemand empören, der jahrelang diese Form der Identitätsbildung in Form von Vergangenheit als Dauerauftrag das Wort geredet hat. Die Deutschen – allerdings nur die, die schon länger hier leben – sind die Nachfahren der Nazis. Für Deutsche mit Migrationshintergrund tut sich da eine Chance auf. Sie können die Deutschen ohne Nazihintergrund sein. Und das ist eigentlich schon genug, um als Lichtgestalt zu erscheinen. Doch auch für uns andere, sozusagen die Kinder und Enkel der Nazis, hat die Bezeichnung seine guten Seiten. Wir haben vielleicht unsere Kultur verloren und leben im Unbestimmten. Aber wir wissen nun, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund noch so bemühen können, so wie wir können sie niemals werden. Denn in den Club der Menschen mit Nazihintergrund kann man nicht eintreten außer durch Herkunft. 

Bild: PDPics

Macht und Moral

Macht hat derjenige, der mir glauben machen kann, meine Wünsche wären auch die seinen. Doch wie geht das? Nehmen wir die Debatte über Critical Whiteness. Da wird, um es abzukürzen, den sogenannten Weißen vorgeworfen, sich als die Normalen darzustellen. Dies sei eine Form der Unterdrückung, da sich der sogenannte Schwarze mit seiner Hautfarbe als unnormal empfindet. Anders gesagt: Meine Hautfarbe ist dein Problem. Man könnte nun argumentieren, dass Weißsein noch kein Privileg darstellt. Denn ein obdachloser Weißer ist ja nicht per se bessergestellt als ein schwarzer Multimillionär. Und der Reichtum des schwarzen Millionärs wird ja wohl auch kaum in den Vorwurf münden, dass damit die Armut des Weißen erst deutlich wird. Doch bei manchen funktioniert die Masche. Sie fangen an, sich in Schuldgefühle zu verstricken. Denn wenn man erst einmal anfängt, die Welt als Jammertal zu betrachten, in das Schwarzsein als Malus nur existiert, weil es privilegierte Weiße gibt, dann kann man nicht anders, als sich schuldig zu fühlen. Doch das allein genügt nicht, um das Bedürfnis zu erklären, die Welt mit dieser Brille zu betrachten. Es muss auch noch was rausspringen. Schuldgefühle sind schon lange mit dem Belohnungssystem verbunden. Diese besteht für woke Weiße – Personen, die sich den Schuh anziehen – darin, anderen Weißen gegenüber moralisch überlegen sein zu dürfen, weil man, im Gegensatz zu ihnen, die tiefe Ungerechtigkeit des Weißseins erkennt. Sehr schnell sitzt man mit am Richtertisch. Und da hat man dann sowohl die Deutungshoheit über das Geschehen als auch die moralische Macht über andere.  Der Wille zur Macht ist nicht unergründlich. Die Wege dazu auch nicht. Einer davon ist Critical Whiteness. Wer sich hier nicht von Schuldgefühlen überwältigen lassen will, der sollte darüber nachdenken, dass Moral und Schuld nicht einfach so da sind, sondern Herrschaftsinstrumente sind. Und genau das lehrt uns doch die Postmoderne, die allerdings zu solch verschrobenen Vorstellungen wie critical Whitness geführt hat: Zu erkennen, dass es immer auch darum geht, uns mit Geschichten zu manipulieren.  

Bild: Sarah Richter

Jeder kann jetzt Opfer sein

Das Wort Opfer hat bekanntermaßen verschiedene Bedeutungen. Da geht es um das Opfer, das einer Gottheit gebracht wird, das Tatopfer, schließlich das Opfer der Verhältnisse. So ein Opfer könnte eine Frau sein, die sich vielleicht prostituieren musste, um ihr vaterlosen Kind durchzubringen. Doch nun muss der Opferbegriff noch einmal gedacht werden. Opfer können auch Menschen sein, die zwar reich und schön sind, allerdings von einer königlichen Familie rassistisch ausgegrenzt werden. Das das überhaupt möglich ist, verdanken wir der Identitätspolitik. Denn man kann auch als privilegierter Mensch einer Gruppe angehören, die es schwer hat bei den Royals. Und wenn man großes Glück … ich meinte natürlich Pech hat, dann gehört man gleichzeitig zur Gruppe der Amerikaner. In diesem Fall ist man intersektional betroffen. Denn wie auf einer Kreuzung, US-amerikanischen Englisch “Intersection”, kann man erst von einem PKW und danach noch von einem LKW überrollte werden. So eben auch Herzogin Meghan, die in Großbritannien nicht nur wegen ihrer Hautfarbe, sondern auch wegen ihrer uramerikanischen Art (berechnend und hypokrit) keinen einfachen Stand hat, besonders aber eben als sogenannte Schwarze. Und ja, es soll auch konkrete Vorfälle gegeben haben, wenn man ihren Ausführungen glauben will. Mitglieder des königlichen Haushalts fragten, welche Hautfarbe nun ihr Kind nach der Schwangerschaft haben möge. Schlimm das! Nun ist es allerdings so, dass Meghan Markle eher nicht so aussieht, wie man sich den typischen Schwarzen vorstellt. Eher entspricht sie dem Typus von dem Umberto Eco meinte, dass er das Ergebnis der großen bevorstehenden Vermischung sein werde: Mit brauner Haut, aber nicht mehr zuzuordnen. Anders gesagt, ihr Teint könnte auch das Produkt eines Karibikurlaubs gewesen sein. Nun wird durchaus mit Gründen argumentiert, dass es sein könne, die Herzogin habe sich in Großbritannien nicht wohl gefühlt. Man denke auch nur an Prinzessin Di. Immerhin auch ein Täter-Opfer, wenn man so will. Allerdings sollte doch nicht außer Acht gelassen werden, dass ein Boxer, der einen Nasenstüber verpasst bekommen hat und darauf dem Gegner einen schweren Leberhaken verpasst, so dass dieser ins Krankenhaus muss, kaum als Opfer bezeichnet werden kann. Jedenfalls könnte man mit Fug und Recht auch meinen, dass die königliche Familie das Oper von Meghan ist. Denn wie es aussieht, sind diese nun als Rassisten in der ganzen Welt unmöglich geworden. Und damit hätten wir am Ende auch noch eine neue Opfergruppe gefunden: die Royals. Identity Policy macht´s möglich.