Das Leben mit dem Buch verwechselt

Der Mensch, irgendwann ursprünglich und rein. Sein Leben ungetrübt und authentisch. Wann genau war das so? Darüber streiten sich die Philosophen. Jedenfalls war man also einst gleich, glücklich und gesund. Und weil ja die Moderne den Menschen aus dem Garten Eden vertrieben hätte, was liegt da näher, als sich in diese Zeit zurückzuversetzen?

Man könnte nun einwenden, dass es ja auch schon damals Ärger im Paradies gab. Doch es bleibt für einige dabei: Die gute Zeit ist entweder vorüber oder kommt erst noch. Für diejenigen, die eher das Schöne in der Vergangenheit verorten und mit ihr die Zukunft gestalten wollen, gibt es einiges im Angebot. Zum Beispiel die Anastasia-Buchreihe. Anastasia, das geistige Geschöpf des russischen Schriftstellers Wladimir Megre, ist eine Frau, die allein in der sibirischen Taiga lebt. Das Leben dort hat sie dabei keineswegs zum russischen Mütterchen verschrumpeln lassen. Im Gegenteil! Sie ist blendend schön und natürlich blond. Sie verfügt über Fähigkeiten, die manchem erstrebenswert erscheinen: Mit Eichhörnchen sprechen, Sachen teleportieren oder langatmige Verschwörungstheorien absondern.

Und die Blonde, über deren Schwestern es übrigens einige hervorragende Witze gibt, muss gegen einen bösen Oberpriester kämpfen, der das Gute und die Guten bedrängt. Mit im Gepäck des Übelmannes sind Demokratie und das ganze moderne Gedöns. Selbstverständlich ist das Ganze mit Antisemitismus aufgeladen. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Mensch in Verblendungszusammenhänge gerissen, aus denen er sich nicht mehr befreien kann, wenn er nicht auf Anastasia hört. Denn Durchblick hat nur die Dame aus der Taiga. So weit, so esoterisch, rassistisch und antimodern. Doch einige, die das gelesen haben, scheinen nun zu glauben, es handelt sich dem Unsinn um ein Sachbuch. Und sie sind fest überzeugt, dass sie, wenn sie so leben wie die Romanfigur, auch ihnen das Essen vom Dachs gebracht wird. So gibt es auch Dörfer in Deutschland, in denen Anastasia-Anhänger ihrem Idol nacheifern, zum Beispiel in Grabow im Bundesland Brandenburg. Was für Außenstehende aussieht wie schlechtes Mittelalter-Theater ist den Protagonisten allerdings bitterernst.

Glücklicherweise ist es so, dass die meisten Menschen noch den Unterschied zwischen Realität und Phantasie kennen. Doch Bücher können für einige in der Tat Programm werden. Carlos Castanedas Spinner-Werke waren ja auch schon für viele in den 70igern so etwas wie eine Gebrauchsanweisung zum richtigen Leben. Und so verschwinden auch heute in Deutschland Menschen in schlechten Büchern und tauchen daraus nicht mehr auf. Sollte man deswegen nun die Bücher verbieten? Natürlich nicht. Aber das hindert uns keinesfalls, uns daran zu erinnern, was Lichtenberg einst sagte: Bücher machen kluge Menschen klüger und dumme dümmer. Anastasia ist dafür ein gutes Beispiel.

Christian Kümpel