Die Konstruktion der Konstruktion

Wenn man geistig Behinderte auf eine Schule für geistig Gesunde schickt, dann werden diese geistig gesund. Wenn ein Mann ein Kleid anzieht und dreimal spricht: Ich bin eine Frau!, dann ist er eine Frau. Wenn jemand fettsüchtig ist, und der Arzt rät zu einer Diät, dann ist das diskriminierend. Was sich auf den ersten Blick absurd erscheint, wird möglich, wenn man dem radikalen Konstruktivismus folgt. Dieser besagt, dass es keine objektive Realität gebe, sondern dass jede Realität immer das Produkt der eigenen Sinnesleistung ist. Es käme also nur darauf an, richtig mit den eigenen Sinnen richtig zu konstruieren, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. So gesehen müsste man einem geistig Behinderten nur ein Umfeld schaffen, in dem er sich als geistig Gesunder entwerfen kann. Und wenn der Mann in Frauenkleidern mit uns gemeinsam sein Frausein erschafft, dann wird er tatsächlich eine Frau. Schließlich müsste es mit etwas Anstrengung auch gelingen, einen Fettleibigen durch kognitive und geistige Anstrengung in ein Supermodell zu verwandeln. All das wird heutzutage versucht, wobei leider erste Rückschläge zu verzeichnen sind. Denn beim radikalen Konstruktivismus gibt es ein kleines Problem, das an dieser Stelle nicht verschwiegen werden kann. Eigentlich müsste er, wenn alles eine Konstruktion wäre, selbst auch eine sein. Anders gesagt: Zu behaupten, alles wäre eine Konstruktion, ist selbst eine Konstruktion und kann daher nicht als Begründung dafür herhalten, alles zur Konstruktion zu erklären. Wenn das so ist, wäre es nicht vernünftiger davon auszugehen, dass es die Menschen schon mit gewissen Realitäten zu tun haben. Könnte es daher nicht sein, dass geistig behinderte Kinder nicht besser dran sind, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern in eine Klasse gehen, um an ihrem Nichtbehindertsein zu arbeiten? Und könnte es nicht sein, dass ein Mann immer noch eine Frau ist, selbst wenn er einen BH trägt und fest davon überzeugt ist, eine Frau zu sein. Schließlich wäre durchaus zu fragen, ob ein Mann mit 150 Kilo nur als Übergewichtiger konstruiert worden ist oder einfach sehr ungesund lebt, weil Mensch einfach nicht für so ein Gewicht ausgelegt sind. Ein Witz über den radikalen Konstruktivismus geht so: Ein Arktisforscher, der zu erfrieren droht, wird in letzter Minute von einer Expedition gerettet: Zu den Teilnehmer des Rettungsteams spricht er dankbar: So ein Glück, dass ich sie gerade erfunden habe, um mich zu retten. Es ist eine Anekdote über uns, die wir glauben, es käme nur auf uns an, während uns in Wirklichkeit geholfen werden muss. Es ist ein Witz über unsere Zeit, zu der der radikale Konstruktivismus gut passt. Denn in der Tat glauben heute viele, alles wäre möglich, wenn man nur richtig konstruiert. Wie man seine Konstruktionen vom Irrsein abgrenzen will, müsste allerdings noch erforscht werden.

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Optische Täuschung

Es gibt da ein Phänomen, für das ich kein rechtes Wort kenne, welches aber weit verbreitet ist. Ich würde es versuchsweise als emotionale Disproportionalität bezeichnen. So eine emotionale Unverhältnismäßigkeit findet man häufig dann, wenn großes Unrecht eher kaum beachtet wird, jedoch an anderer Stelle in kleinerer Form ganz Gesellschaften erschüttert. So ist es beispielsweise bemerkenswert, dass der Tod von Georg Floyd durch das massive Fehlverhalten der US-amerikanischen Polizei so ein großes Echo fand – auch in Deutschland – obwohl Floyd kein Deutscher ist, kriminell war und eigentlich keine Besonderheit aufwies, außer schwarz zu sein. Der massenhafte Tod in Syrien dagegen, scheint hierzulande kaum jemand seelisch aufzuwühlen.

Was könnten die Gründe sein? Zum einen ist es sicher nicht unbeachtlich, dass der Tod des Schwarzen gefilmt wurde. So wurde für alle sichtbar, welche Ungeheuerlichkeit dort geschah. Denn es ist in der Tat furchtbar zu sehen, wie ein Mann erstickt wird, der um sein Leben bettelt. Dazu kam die Erzählung von dem Fass, das übergelaufen ist. Das Narrativ geht so: In den USA sterben täglich Schwarze durch weiße Polizei, weil es Rassismus gibt. Dieser Tote war nun der eine Tote zu viel. Und wie es immer so mit Narrativen ist, sie sind fest in unseren Köpfen verankert, obwohl sie nur lose mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Laut der Website von Statista sterben seit 2015 35 Schwarze auf eine Millionen Einwohner durch die Polizei. Bei Weißen liegt die Zahl bei 14. Allerdings gehen dreimal mehr Schwarze pro eine Million Einwohner ins Gefängnis als Weiße. Natürlich kann man diskutieren, welche Gründe es für diese Ungleichheit gibt. Aber was man deutlich sieht: Schwarze kommen häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Ist es da überraschend, dass sie auch häufiger erschossen werden? Seit Jahren gibt es übrigens mehr Schwarze in der Polizei, aber nicht weniger Gewalt gegen Schwarze. Spricht das für massiven Rassismus? Eher dafür, dass es in den USA eine grundsätzliche Härte bei der Polizei gibt. Das soll nicht heißen, dass die Polizeikräfte in den USA keinen Rassismus kennen. Doch George Floyd ist wohl in erster Linie deshalb gestorben, weil sich die Polizei in den USA seit den 80igern stark brutalisiert hat.

Doch was noch viel bemerkenswerter ist: Andere Formen von Ungerechtigkeiten können offensichtlich mit der Gewalt im Falle von Georg Floyd nicht mithalten, obwohl diese nicht unwesentlich sind. Zum Beispiel der Syrienkrieg. Im Jahre 2018 kamen in Berlin 100 Leute zusammen, um gegen den Syrienkrieg zu demonstrieren. Bei der BLM-Demo Black waren es zwei Jahre später 2000. In Syrien werden durch russische Piloten Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen bombardiert mit unfassbaren Folgen. Was könnte nun erklären, warum manche wegen George Floyds so wütend sind, aber im Falle des tausendfachen Todes in Syrien eher mit den Schultern zucken.

Nun die Lager für Uiguren in China, die Kriegsopfer in Syrien und die Kinderarbeit in Pakistan kommen einfach auf der Empörungsskala nicht an den Tod von Georg Floyd heran, weil die Menschen nicht perfekt sind. So wie sie wegen eines organischen „Konstruktionsfehlers“ leicht optischen Täuschungen unterliegen, so unterliegen sie auch moralischen Täuschungen und können die Proportionen nicht erkennen. Bei Moral und Empörungen kommt es außerdem sehr stark auf Moden und Strömungen an, nicht auf das Leid, das erfahren wird. Und zurzeit ist eben Rassismus in aller Munde. Man sollte wissen, dass man seiner Moral genauso wenig trauen darf wie seiner Erinnerung oder seinen Augen. Denn Moral braucht eine Geschichte, um uns zu empören. Die von dem Tod durch Rassismus einfach eingängiger als die von dem hundertfachen Tod in Syrien durch russische Jets. Und schließlich gibt es noch den Kieseleffekt: Man versucht sich als Mensch lieber an einem kleinen Stein als an einem Felsen, den man eh nicht heben kann. Wenn man dann den Kiesel in der Hand hält, glaubt man, ein Herkules zu sein. Black Lives Matter wäre der Kiesel, der leichter zu heben ist. Und so bleibt am Ende mit Stalin, einem Menschenkenner erster Güte, nur festzustellen: “Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur Statistik.” Klingt komisch, ist aber so.

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