Darf ich canceln?

Audianer_innen, Leser:innen oder Schülys… Das sind so die sprachlichen Auswüchse des Genderns. Nun schlägt ein Leser der FAZ vor, gegenzuhalten. Es sei aus seiner Sicht nicht sinnvoll, darauf zu hoffen, dass der Unsinn von allein vorübergeht. Es sei auch nicht vernünftig, sich zurückzuziehen. Man solle dagegenhalten. Aber hilft es, keinen Audi zu kaufen oder zu leasen, Zeitungen abzubestellen, die gendern, und Fernsehsender nicht einzuschalten, bei denen die Moderatoren den Glottisschlag benutzen? Das kann man noch erweitern. Wie wäre es, keine Partei zu wählen, wo gegendert wird? Und wie wäre es, gegen jeden Bescheid zu klagen, der in gendergerechten Sprache verfasst ist?

Meine Antwort: Es wäre richtig! Ich werde mir also keinen Audi kaufen. Natürlich auch, weil ich dafür kein Geld hätte. Das PNN-Abo läuft aus. Und was die Parteien betrifft, muss ich mir noch mal die Programme zum Gendern anschauen. Allerdings treibt es mich um, dass ich nun selbst der Cancel Culture bezichtigt werde. Was ist davon zu halten? Der Blogger mit dem Irokesenschnitt (kulturelle Aneignung der schlimmsten Form), Sascha Lobo meint dazu: „Es gibt eine ganze Reihe von Leuten mit denen würde ich mich niemals auf eine Bühne stellen, und das ist nicht der Untergang der Welt und auch nicht die große Bedrohung durch “Cancel Culture”. Sondern es ist meine freie Entscheidung und mein Teil der Debatte!“ Es geht also darum Grenzen zu ziehen.

Das überzeugt mich! Man sollte eine ziehen, wenn man seine Überzeugungen hat. Und dazu gehört es auch, andere zu boykottieren, um einmal ein altmodisches Wort zu verwenden. Es gibt allerdings ein kleines Problem. Lobo argumentiert aus einer Position der Stärke. Denn Audi, die Zeitungen, Lobo und das Fernsehen haben die Macht. Und ich habe sie nicht. Ich werde also gegen die große Macht canceln, die im Wesentlichen darin besteht, uns die gesellschaftlichen Diskurse vorzuschreiben. Ob ich so viel Macht habe, dass mich jemand hört, muss zwar bezweifelt werden. Aber selbst wenn ich sie nicht habe. Für uns geht es darum, dass wir unsere Würde behalten. Canceln kann uns dabei helfen.

Bild von Michał K. auf Pixabay

Vollkommene Gerechtigkeit, eine Gefahr für uns alle

Ich empfinde es als äußerst problematisch, dass mein Nachbar ein großes Auto fährt, obwohl er keinen ertragreichen Job hat. Mein Nachbar dagegen ist empört darüber, dass schwarze Schauspieler keine Oscars bekommen. Eine weitere der größeren Ungerechtigkeiten: Ein Kollege von mir ist hässlich. Deswegen hat er Nachteile. Und was soll die fünfzigjährige Frau von gegenüber sagen. Sie spürt jeden Tag, dass die Männer sie anders ansehen als früher, obwohl sie sich innerlich wie eine junge Frau fühlt. Ist das fair? Man sieht, die Ungerechtigkeit lauert überall, wenn wir nur lange genug suchen. Und wenn dann das Gefühl nagt, dass das Leben unfair zu einem ist, dann wird man noch zu allem Überfluss aggressiv.

Und was wäre nun die Lösung? Nun, im Falle meines Nachbarn wäre es angemessen, wenn er sein Auto verkauft und sich ein kleineres zulegt. Ich fühlte mich jedenfalls damit besser. Was nun die schwarzen Schauspieler betrifft, so könnte man ja eine Quote einführen. Sagen wir 30 % aller Oscars gehen immer an Schwarze. Oder man führt einen Oscar für Schwarze ein. Dann läge die Quote bei 100 Prozent. Im Falle der hässlichen Menschen könnte man Schönheitsoperationen von der Krankenkasse bezahlen lassen. Und ältere Frauen sollten ein Anrecht auf bewundernde Blicke haben. Vielleicht könnte man da mal ein Gesetz verabschieden.

All diese Lösungen sind aber am Ende leider keine. Und das wissen wir. Denn mit nach jeder Beseitigung von Ungerechtigkeit wird bald eine neue entdeckt. Man zählt bereits jetzt 20 Ungerechtigkeitsformen. Ich wäre nicht überrascht, würde man noch mehr Unfairness finden.

Natürlich wäre es eine Gefahr, wenn man das Thema ganz ignorierte. Ein wenig muss es schon gerecht zugehen. Es ist aber ebenso eine Gefahr, wenn man nur darauf schaut, ob und wo es ungerecht zugeht und ob und wie man selbst ungerecht behandelt worden ist. Denn so wie Michael Kohlhas wegen seines Gerechtigkeitstriebs am Ende ganze Landschaften verwüstet, so könnte ein überzogener Gerechtigkeitsanspruch die Gesellschaft zerstören. Und vor allem wird es zu einer Gefahr, wenn jeder unter Gerechtigkeit etwas anderes versteht.  Nietzsche meinte: „Jedem das Seine geben: Das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen.“ Wenn wir das Chaos nicht wollen, dann sollten wir uns davon verabschieden, dass es in der Welt vollkommen gerecht zugehen könnte und die Welt zu uns gerecht wäre. Im Gegenteil sollte man wieder lernen mit einer gewissen Unschärfe zu leben, damit die Gerechtigkeit nicht am Ende zu unserer Nemisis wird.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Pastoralmacht ohne Pastoren

Rassismus ist, wenn man dem anderen wegen seiner Herkunft bestimmte Merkmale zuschreibt. Es ist ebenfalls Rassismus, wenn man bemerkt, dass jemand überraschenderweise diese Merkmale nicht besitzt. Überhaupt ist es rassistisch, wenn man glaubt, Menschen würden Gruppen bilden. Und es ist nun mal so, dass die meisten sich ihre kleinen rassistischen Gedanken machen, von denen sie natürlich niemals zugäben, dass sie sie haben. Diese fiesen kleinen Gedanken kommen einfach so, ganz ungebeten. Zum Beispiel wenn ein Mitbürger mit türkischem Migrationshintergrund jemand die Vorfahrt nimmt. Dann bringt man Dinge miteinander in Verbindung, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, wie zum Beispiel Herkunft und Fahrweise. Doch meistens ist der Gedanke bald auch wieder verschwinden. Anders gesagt, man kann dem Rassismus nicht entkommen, aber der bestimmt auch nicht unser Leben.

Genauso so ist es mit schmutzigen Gedanken, die man gelegentlich hat, wenn man einen attraktiven Menschen sieht. Sie kommen und gehen wieder. Macht uns das zu sexistischen Personen? Ich würde eher sagen, es macht uns zu Menschen. Doch wie wäre es, wenn jemand fordert nicht sexistisch zu sein und damit meint, auch keine schmutzigen Gedanken zu haben?  Das würde bedeuten, dass jeder sich ständig selbst belauern müsste. „Ich habe gerade gedacht, dass die Frau einen schönen Po hat. Ich darf so einen Gedanken nicht zulassen.“ Ist das normal, oder hört sich das nach Zwangsstörung an? Und wäre es nicht auch eine Zwangsstörung, sich ständig damit zu beschäftigen, ob man rassistische Gedanken hegt?

Eine Gruppe in den USA scheint da anderer Meinung zu sein. Sie nennt sich „anonyme Rassisten“ und ist eine Selbsthilfegruppe, um den Rassisten in sich aufzuspüren. (www.kirche-im-wdr.de/nix/de/nc/startseite/programuid/anonyme-rassisten/formatstation/wdr2/) Zitat: „Wir kamen zu dem Glauben, dass nur eine Macht, größer als ich selbst, mich in meiner Menschlichkeit wiederherstellen kann. Damit ich die nicht-rassistische Kreatur werde, als die Gott mich geschaffen hat.“ Dass Gott uns als nicht-rassistische Kreatur geschaffen hat, ist eine Behauptung, die jeder Lebenserfahrung widerspricht. Dass meine Menschlichkeit verschwunden wäre, sobald ich rassistische Gedanken haben, ist ebenfalls zu bezweifeln. Menschen sind eben nicht perfekt, selbst wenn sie von Gott geschaffen worden sind. Und die Hoffnung, den Rassismus so zu überwinden so vergeblich wie es vergeblich ist, sexuelles Begehren grundsätzlich nicht aufkommen zu lassen.   

Schlimmer noch: Der ständige Gedanke, kein Rassist sein zu wollen, wird irgendwann zum Zwangsgedanken. Während nämlich der normale Rassist gelegentlich einen rassistischen Gedanken hat, der auch wieder verschwindet, wird der „anonyme Rassist“ ständig mit seiner Angst umgehen müssen, keine rassistischen Gedanken haben zu dürfen, was ihn an die Gruppe der anonymen Rassisten bindet. Anders ausgedrückt, wenn man das Thema Rassismus zum Dauerthema macht, verschwindet der Rassismus nicht, sondern wird perpetuiert. Genau so wie der schmutzige Gedanke sich immer weiter verstärkt, wenn man ihn zu unterdrücken sucht.  

Das führt zu dem Thema Priesterherrschaft, die heute die Herrschaft der Aktivisten ist. Wer denkt, Rassismus dürfe es überhaupt nicht geben, auch wenn er selber ab und an Dinge denkt und vielleicht sagt, die ein Antirassist nicht denken oder sagen darf, der liefert sich den Aktivisten aus. Diese sind geübt darin, Rassismus überall aufzuspüren. Und so wie Priester vor wenigen Jahren noch fragte „Hast Du schmutzige Gedanken?“, so sorgen Aktivisten für ein dauerhaft schlechtes Gewissen, indem sie feststellen, dass da wieder irgendwas rassistisch aus dem Ruder lief. Wer diese Herrschaft nicht dulden will, der sollte sich eingestehen, dass die Forderung anderer nach Perfektion nichts anders ist als der Versuch, Herrschaft auszuüben.

Michel Foucault nannte übrigens die Technik der Macht über andere durch schlechtes Gewissen Pastoralmacht: Es ist die Priesterherrschaft, die erlangt wird durch Unterwerfung des Gläubigen, indem der Gläubige zum Subjekt gemacht wird, der für seine Gedanken verantwortlich ist, während der Priester diese Gedanken sozusagen fördert, indem er sie zum Dauerthema macht. Dieses Subjekt „erkennt“ seine Schuld, die ihn jedoch hoffnungslos an den Prieser kettet. Denn nur der Priester verspricht Vergebung und Erlösung. Diese Pastoralmacht ist nun in den Händen der Aktivisten, die keine Erlösung versprechen, sondern nur eine auf Dauer angelegte Übertribunalisierung, ohne Aussicht auf Vergebung. Denn in ihrer Welt gibt es keinen Himmel und keinen Gott, sondern nur Rassisten und Antirassiten. Und so bleibt nur das Subjekt mit seiner Schuld, die in immer tieferen Schichten gefunden werden muss. Der Aktivist wird dabei zum Dauerankläger, der kein Gewissen hat, sondern Gewissen ist (Odo Marquardt).

Den Rassismus auf dieser Grundlage zu besiegen, ist so vergeblich wie der Versuch mit einem löchrigen Einer das Meer zu leeren. Aber das ist ja auch nicht das Ziel der Übung. Was man jedoch bedenken sollte: Der Ansatz wird zu nichts Gutem führen. Denn die Aktivisten müssen die Dosis des Antirassismus ständig erhöhen, weil die Gesellschaft insgesamt immer weniger rassistisch ist. Ob das auf Dauer gutgeht, darf bezweifelt werden. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand sagt: Wenn ich sowieso nichts richtig machen kann, dann soll mir der ganze Antirassismus gestohlen bleiben. Was bei den Priestern 1000 Jahre brauchte, könnte also bei den neuen Prälaten schon viel eher vorbei sein: Die Macht über die Gläubigen.

Bild von Wengen auf Pixabay

Die Konditionierung

Bekanntermaßen kommt es bei der Gendersprache auf die Sichtbarmachung von Geschlechtern an. Die Uni Potsdam hat dazu einen Leitfaden entwickelt, den mein Sohn als Student zu befolgen hat, will er keinen Punktabzug bei seiner Arbeit riskieren. In diesem Leitfaden wird die männliche Personenbezeichnung als Fehler bezeichnet, wenn sie sich auch auf Frauen bezieht. Denn wenn man nur von Wissenschaftlern redet, dann wären Frauen nicht sichtbar.

„In der Arbeit wird aus Gründen der Lesbarkeit auf das Gendern verzichtet. Frauen sind immer mitgemeint.“ Mit solchen Generalklauseln kommt man an der Uni Potsdam leider nicht durch. Weibliche Formen nicht außerdem nicht in Klammern zu setzen. Wissenschaftler(innen), das geht gar nicht

 „Vermeiden sie die vermännlichte Silbe „man“ beim Neutralisieren des Geschlechts.“ Eine witzige Bemerkung. Denn eine vermännlichte Silbe festzustellen ist ungefähr so geistreich wie zu behaupten, die Silbe frau sei verweiblicht. Gemeint ist natürlich das generalisierende Personalpronomen „man“, das in der Tat vom Wort Mann kommt. Genauso wie jedermann oder Mensch. Insofern wäre zu hinterfragen, ob das Wort Mensch überhaupt noch in einem wissenschaftlichen Text vorkommen darf und nicht durch das Wort Mensch*in ersetzt werden sollte.

Die Funktion des Pronomens „man“ ist es unter anderem Passivkonstruktionen zu vermeiden. So ist ein aktives „Man arbeitet hier in zwei Schichten“ semantisch nicht zu unterscheiden von „Hier wird in zwei Schichten gearbeitet“. Doch um „man“ zu vermieden, wird die passive Form empfohlen. Ist das sinnvoll? Denn anderswo kann man lesen, dass Passivsätze starr und unpersönlich klingen. Zum Beispiel bei Katharina Tielsch in 10 Tipps für besser lesbare Texte. Aber Hand aufs Herz: Wissenschaftliche Texte werden ja umso wertvoller, je opaker sie sind.

Ganz wichtig ist es der Uni Potsdam auch, Rollenklischees zu vermeiden. Frauenparkplatz, Mutter-Kind-Raum, Fräuleinwunder oder Hexenverbrennung, das sind so Wörter, die kann man einfach nicht mehr bringen. Sicher gilt das auch für Mannsbild. Doch das ist noch nicht alles: Die Universität Potsdam ist kein Arbeitgeber, sondern eine Arbeitgeberin. Diese Kongruenz zu Ende gedacht, wäre das Parlament weder Arbeitgeber noch Arbeitgeberin. Wie wäre ein Arbeitgeberchen? An anderer Stelle wird die Kongruenz allerdings wieder abgelehnt. Auch sei es viel besser von „alle“ und „die“ zu sprechen. Ob sich nun die männlichen Studenten mit „die“ wohlfühlen, wird nicht weiter hinterfragt.

Viele Argumente sind bereits gegen das Gendern ins Feld geführt worden. Hier nur vier: In der Sprache wird immer mitgemeint. Drei Tage Aufenthalt heißt, dass man auch drei Nächte Aufenthalt hatte. Drei Personen heißt, dass es auch drei Männer sein können, obwohl sich bei Person um ein Wort mit weiblichem Genus handelt. Denn das grammatische Geschlecht (Genus) ist eben nicht das biologische Geschlecht (Sexus). Auch Hinweis, dass ein Studierender etwas anders darstellt als ein Student. Dies ist leicht zu überprüfen. Ein toter Studierender ist etwas Unmögliches. Eine gehende Schwimmende auch. Der Einbrecher sollte nicht zum Einbrechenden werden, der Totschläger bitte nicht zum Totschlagenden und der Betrüger, wenn´s beliebt, nicht zum Betrügenden.

Schließlich gibt es ein Gesetz in jeder Sprachentwicklung. Es nennt sich Sprachökonomie. „Man versteht unter Sprachökonomie die Neigung von Sprecher und Hörer, auf Sprachformen so einzuwirken, dass die Kommunikation zwischen beiden gewährleistet ist bei einem für beide möglichst geringen Aufwand.“ So heißt es bei Wikipedia. Gegen dieses Gesetz verstößt, wer die Wörter und Texte länger macht als nötig, ohne dass es ein Zugewinn an Verständigung gäbe. Dieses Gesetz der Sprachökonomie ist auch der Grund, warum man nie hört: Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, sondern immer sehr geehrte Bürger und Bürger. Achten Sie mal das nächste Mal drauf. Es ist jedenfalls ein Heidenaufwand, jeden mitzunehmen. Das erspart man sich besser.

Als Argument für die Verwendung der gendergerechten Sprache wird schließlich noch ein kleines Rätsel gebracht. Ein Junge wird ins Krankenhaus gebracht, nachdem sein Vater und er einen Unfall hatten. Der Chirurg meint: „Ich kann ihn nicht operieren, er ist mein Sohn.“ Frage: Wer ist der Chirurg? Die Mutter! Vielleicht zur Verständnishilfe: Darum gibt es das Wort Chirurgin. Das darf man ja benutzen, wenn es passt. Und außerdem ist das Rätsel leider extrem schwulenfeindlich, wenn man drüber nachdenkt. Denn seit wann können Männer keine Mütter sein?

Dass alle an der Hochschule mitmachen werden bei der Sprachverhunzung, ist sonnenklar. Denn man möchte einfach nur sein Studium hinter sich bringen. Ärger will man sich nicht aufhalsen. Die Uni wird also damit durchkommen, außer einer rafft sich auf und klagt wegen Punktabzugs vor einem Verwaltungsgericht. Woher die Uni das Recht nimmt, anderen eine Privatsprache vorzuschreiben, ist nicht bekannt. Aber so etwas wird nicht hinterfragt. Genau so wenig wie die Frage, ob hier Macht missbraucht wird. Um einen Gedanken Foucaults gewinnbringend auf die heutigen Hochschulen einzubringen: Universitäten haben die gleichen sozialen Funktionen wie Gefängnisse und Irrenhäuser – sie definieren, klassifizieren, verwalten und regulieren Menschen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bild von Wolfgang Appel auf Pixabay

Transsexualität, die Chance für die Chemieindustrie

Es gibt Leserbriefe, die verdienen es, zweimal gelesen zu werden. So die Mitteilung von Stefanie Bode von der Women´s Human Right Campaign Deutschland in der FAZ vom 07.04. Die Dame gendert zwar, aber ihre Argumente sind beachtlich. Worum geht es? Um das sogenannte Zuweisungsgeschlecht und seine Folgen. Das Wort Zuweisungsgeschlecht suggeriert, dass dem Neugeborenen ein Geschlecht zugewiesen wird. Frau Bode macht jedoch in ihrem Brief deutlich, dass man Geschlechter nicht zuweist, sondern feststellt. Oder, so möchte man fragen, gibt es eine Geschlechterzuweisungskommission in den Geburtsstationen, die darüber befinden, welches Geschlecht ein Säugling bekommt? Alsdann wird das Wort „straight ally“ problematisiert. Der Begriff suggeriere so Bode, dass Homosexualität mit Transgender in Verbindung stehe. Aus meiner Sicht irrt Bode hier. Das Wort bedeutet eher, dass heterosexuelle Personen Schwule und Lesben unterstützten. Bode weist jedoch zurecht darauf hin, dass lesbische Frauen sich als Frauen und schwule Männer sich als Männer fühlen. So zu tun, als hätte das irgendwas mit Transsexualität zu tun, ist grundfalsch. Und daraus zu schließen, man wäre verbündet, ebenfalls.

Dann kommt Bode auf den entscheidenden Punkt, indem sie von Geschlechterempfinden spricht. Hier erwähnt Bode zwei Konzepte, bei denen es vor nicht allzulanger Zeit darum ging, diese nicht zu vermengen: Fakten und Glauben. Fakt ist, dass man ein Geschlecht hat. Glaube ist, wenn man meint, ein Halbgott zu sein, oder aber einem anderen Geschlecht anzugehören. Kindern zu helfen, indem man sie in einem Glauben praktisch bestärkt, der nichts mit den Fakten zu tun habe, sei nicht sehr erwachsen, meint Bode. Oder würde irgendjemand auf die Idee kommen, Mädchen in ihrem Glauben zu bestärken, eine Fee zu sein, damit sie sich Flügel auf den Rücken transplantieren lassen können?

Aber es wird noch interessanter, als Bode die Frage aufwirft, was für eine Identität das überhaupt sei, wenn sie zum einen ja doch auf der üblichen Geschlechterform basiert, zum anderen auf einer dauerhaften Medikation beruht und so die Dissoziation vom eigenen Körper “normalisiert”. In den Worten Bodes: „Alles nichts Erstrebenswertes, was es zu beklatschen gilt.“

Seit 2019 wird Transsexualität als Zustand sexuellen Gesundheit definiert. Und es stimmt ja auch: Nicht jeder Transsexuelle muss Pillen schlucken. Ihn als krank zu bezeichen, wäre schwierig. Meine Intuition sagt mir aber, dass jemand der jeden Tag Medikamente nehmen muss, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, man wäre ein Mann oder eine Frau, kaum als gesund bezeichnet werden kann. Doch wenn auch Gesundheit zur Glaubensfrage wird, dann ist wahrscheinlich auch das möglich.

Am Ende Leserbriefes stellt Bode die Frage, wem die Diskussion um ein Zuwendungsgeschlecht nutzt. Sie kommt dabei auf den industriel-medizinischen Komplex zu sprechen. Der IMK wittert ihrer Meinung nach die Chance auf das große Geschäft. Denn, so möchte ich ergänzen, wenn man nur genug Kindern einredet, sie seien im falschen Körper gefangen, so werden Hormonproduzenten, aber auch Chirurgen den großen Reibach machen. Wer nun meint, dass Ärzte grundsätzlich verhindern würden, Menschen zu schaden, der sei daran erinnert, dass in den USA Millionen verdient wurden mit Opioiden, die bei vielen zu Suchterkrankungen führten. Dazu auch folgender Link: www.aerzteblatt.de/nachrichten/102541/Aerzte-in-USA-wegen-illegaler-Schmerzmittelverordnungen-angeklagt. Die Frage, die Bode stellt: Bahnt sich in der Frage der nächste Skandal an? Wenn die Genderlobby hier ganze Arbeit leistet, kann das durchaus sein.

Dass die Identitätspolitik hier also “nützliche“ Arbeit als Türöffner leistet, sei abschließend von mir erwähnt. Immerhin hat man ja auch ein gewisses Interesse daran, das Geschlecht zur Disposition jedes Einzelnen zu stellen. Die Industrie scheint dieses Interesse zu teilen. So was nennt man wohl eine unheilige Allianz.

Bild von Rudy and Peter Skitterians auf Pixabay

Hammer und Nagel

Es gibt Konstruktivismus, Sozialismus, Naturalismus, Darwinismus und noch andere Konzepte, die mit -mus enden. Wer ein Konstruktivist ist, der wird überall Konstruktionen erkennen. Der Strukturalist wird eher dazu neigen, Strukturen zu sehen. Wer aber ein Rassist ist, der klopft alles erst mal auf den ethnischen Hintergrund ab. Der berüchtigte Rassist Adolf Hitler ging dabei so weit, dass er das Weltgeschehen als einen ständigen Rassenkampf sah. Dass diese Sichtweise zu nichts Gutem führte, ist heute fast jedem geläufig.

Diese Form des eingeschränkten Denkens ist dennoch weithin verbreitet. Auch die Identitätspolitiker sind zum Beispiel der Meinung, dass der Rassismus der Schlüssel wäre, um alle Türen zu öffnen. Und so stellen sie fest: Schwarze sind nur deshalb so wenig erfolgreich, weil es Weiße gibt. Weiße zwingen anderen weißes Denken auf. Weiße unterdrücken Schwarze in mannigfacher Weise. Weiße zerstören die Kultur der Farbigen. Und selbst wenn sich die Weißen sozusagen aus Staube machen, um nur noch in ihren weißen Vorstädten zu wohnen, ist es auch nicht recht. Denn das ist Segregation. Anders gesagt: Egal, was der Weiße tut, er tut es, weil er ein Rassist ist. Und Rassisten können nichts richtig machen.

Nun heißte es: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Man kennt das Prinzip als Law of the instrument. Und wie im wahren Leben ist der Hammer durchaus nützlich, wenn man einen Nagel in die Wand treiben will. Er wird allerdings zum Problem, falls man damit die Fensterscheibe putzen möchte. Ein weiterer nützlicher Hinweis lautet: „Kaffeetassen fallen vor allem dann auf den Boden, wenn man morgens mit dem linken Fuß aufgestanden ist.“ Soll heißen: Wer eine Bestätigung für seine Thesen sucht, der wird sie auch finden. Was will ich damit sagen?

Nun, ich will nicht bestreiten, dass es in Deutschland einen gemäßigten Rassismus gibt, der im Wesentlichen darin besteht, dass man gerne unter seinesgleichen bleibt, dass man Ausländern nicht unbedingt so vertraut wie dem deutschen Nachbarn und es nicht unbedingt begrüßt, wenn ein Asylantenheim in unmittelbarer Nähe des neuen teuren Einfamilienhauses errichtet wird. Dass man sich nicht zu dieser Form des Rassismus bekennen darf, ist der Grund, warum die Heuchelei in diesem Land so verbreitet ist. Dennoch ist es nicht so, als ob nun alles mit Rassismus zu erklären wäre. Zum Beispiel Ehrenmorde in der muslimischen Community oder Klitorisverstümmelungen bei unseren afrikanischen Mitmenschen oder die Leistungsbereitschaft bei vietnamesischen Einwanderern. Wer mit der sogenannten Realität umgehen will, die im Übrigen sehr komplex ist, der sollte also wie ein Handwerker auch mal das Werkzeug wechseln, wenn der Hammer nicht geeignet ist, die Arbeit zu erledigen. Andernfalls könnte es passieren, dass man sonst alles kaputt schlägt. Sogar sein neues Zuhause.

Bild von falconp4 auf Pixabay

Don´t feed the beast!

Aufklärer denken, dass sich die Wahrheit langsam, aber sicher offenbart. Darin ist die Aufklärung ganz Kind des Christentums. Auch Thierse ist jemand, der meint, die Wahrheit brauche Zeit, um sich zu zeigen. Und so bittet er um Verständnis dafür, dass manche bei den Forderungen der Identitätspolitik auf dem Marsch ins Licht nicht so mitkommen. „Ich wünsche mir, dass man dem „gemeinen Volk“ ein bisschen mehr Zeit lässt.“, so lässt er in dem Interview verlauten, das er dem Tagesspiegel gegeben hat. Die Bemerkung zieht allerdings seinen eigenen Thesen den Boden unter den Füßen weg.

Zu diesen schreibt Wikipedia „Die Identitätspolitik von rechts sei eine Politik, die zu Ausschließung, Hass und Gewalt führe. Und die Identitätspolitik von links führe, wenn sie einseitig und radikal betrieben werde, zu Cancel Culture. Das heiße, man wolle sich nicht mehr mit Leuten auseinandersetzen, die Ansichten hätten, die einem nicht passten. Das sei „ziemlich demokratiefremd“ und im Grunde demokratiefeindlich.“ So weit, so richtig. Doch was soll dann der Satz, man müsse dem gemeinen Volk mehr Zeit lassen, das Anliegen der Identity-Policy-Kaste nachzuvollziehen.

Und da sind wir eben wieder bei dem Grundproblem der Sozialdemokratie: Allen wohl und keinem Weh: ESPEDE. Man will es allen recht machen, auch dem ID-Monster, indem man seinen Forderungen nicht hart entgegentritt, sondern es bittet zu warten, bis auch das dumme Volk verstanden hat. Dabei sollte man eher mit Christopher Hitchens grundsätzlich feststellen: „Leute, die mit ihrer Haut, ihren Genitalien oder ihrem Clan denken, sind zunächst mal ein Problem.“ Und: „Der große Irrtum der heutigen politischen Korrektheit – um etwas zu sichern, das vage als” Vielfalt “bezeichnet wird, besteht es auf etwas, das definitiv als Konformität erkennbar ist.“ Anders gesagt: Wenn das dumme Volk endlich versteht, dass man mit schwarzer Hautfarbe, weiblichem Geschlecht und religiösen Überzeugungen grundsätzlich unterdrückt ist, sind wir immer noch nicht erlöst. Im Gegenteil.

Bild von Alexandra ❤️A life without animals is not worth living❤️ auf Pixabay

Wir othern, also sind wir

Othering ist ein Wort, das im Kontext der Identitätspolitik häufig vorkommt. Im Wesentlichen geht es dabei um Identität, die gewisse Voraussetzungen hat, nämlich das Andere. Ohne den Anderen erfahre ich mich nicht als Selbst. Anders gesagt: Der Eine macht den Anderen. Soweit, so banal. Beim Othering wird nun leider der Andere nicht immer so konstruiert, wie man das als humanistisch Gesinnter erhofft. Der russische Bauer wird zum Kulaken, damit man ihn ins Gulag schicken kann. Der Jude wird zum Rassenfeind, den man umbringen darf. Der Schwarze zum Minderbegabten, über den zu herrschen man die Pflicht hat. Der Mechanismus des Otherings liegt unter anderem darin, dass er das Selbst und die eigene Gruppe aufwertet. Der andere wird dabei oft abgewertet. Das ist schlecht.

Kann man nun nicht auch den Anderen anders konstruieren, damit der Andere sich wohlfühlt? Wie wäre es, man machte beispielsweise den Afrikaner zum Daueropfer des weißen Mannes und sich selbst zum bösen Kolonialherren im Geiste? Das wäre in der Tat eine beliebte Spielart der sozialen Konstruktion, die zurzeit sehr en vogue ist. Allerdings wäre dann der andere wieder auf eine andere Rolle festgelegt, die auch irgendwie fragwürdig ist. Denn der reiche Rapper ist ja nicht unbedingt das Opfer meiner postkolonialen Instinkte. Wobei ich in der Story ja irgendwie als weißer Herrscher auch geothert worden bin, allerdings von anderer Seite und auch nicht zu meiner vollsten Zufriedenheit. Wenn es überhaupt nicht wünschenswert ist, dass der Andere darüber befindet, wie man sich selbst zu sehen hat, dann dürfte keiner den anderen othern. Auch nicht unter umgekehrten Vorzeichen. Ist das möglich?

Dass wir immer irgendwie den anderen othern, ist kaum zu vermeiden. Denn wie will man leben, ohne durch Fremdzuschreibung sich selbst zu erfahren? Und wer sagt, wie der andere wirklich ist? Wenn man aber nichts falsch machen will, dann gibt es eine Möglichkeit, das Problem zu entschärfen, nämlich durch die gute alte Höflichkeit. Sie hält den anderen auf Distanz, ohne ihn zu verletzten. Die eigenen Vorurteile kann man dann behalten, wenn man Wert auf sie legt, indem man im Umgang mit dem Anderen einen distanzierten Umgang pflegt. Um gut miteinander auszukommen und nicht zu offensichtlich zu othern, sollte man also beim Sie bleiben und sich verhalten wie ein Gentleman oder eine Lady. Und schon sieht die Welt für alle ein wenig freundlicher. Ob wir allerdings in Zeiten, in denen jeder ständig vom anderen verlangt, sich zu bekennen, zu so einer befriedenden Distanz in der Lage sind, ist eine andere Frage.   

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Die Konstruktion der Konstruktion

Wenn man geistig Behinderte auf eine Schule für geistig Gesunde schickt, dann werden diese geistig gesund. Wenn ein Mann ein Kleid anzieht und dreimal spricht: Ich bin eine Frau!, dann ist er eine Frau. Wenn jemand fettsüchtig ist, und der Arzt rät zu einer Diät, dann ist das diskriminierend. Was sich auf den ersten Blick absurd erscheint, wird möglich, wenn man dem radikalen Konstruktivismus folgt. Dieser besagt, dass es keine objektive Realität gebe, sondern dass jede Realität immer das Produkt der eigenen Sinnesleistung ist. Es käme also nur darauf an, richtig mit den eigenen Sinnen richtig zu konstruieren, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. So gesehen müsste man einem geistig Behinderten nur ein Umfeld schaffen, in dem er sich als geistig Gesunder entwerfen kann. Und wenn der Mann in Frauenkleidern mit uns gemeinsam sein Frausein erschafft, dann wird er tatsächlich eine Frau. Schließlich müsste es mit etwas Anstrengung auch gelingen, einen Fettleibigen durch kognitive und geistige Anstrengung in ein Supermodell zu verwandeln. All das wird heutzutage versucht, wobei leider erste Rückschläge zu verzeichnen sind. Denn beim radikalen Konstruktivismus gibt es ein kleines Problem, das an dieser Stelle nicht verschwiegen werden kann. Eigentlich müsste er, wenn alles eine Konstruktion wäre, selbst auch eine sein. Anders gesagt: Zu behaupten, alles wäre eine Konstruktion, ist selbst eine Konstruktion und kann daher nicht als Begründung dafür herhalten, alles zur Konstruktion zu erklären. Wenn das so ist, wäre es nicht vernünftiger davon auszugehen, dass es die Menschen schon mit gewissen Realitäten zu tun haben. Könnte es daher nicht sein, dass geistig behinderte Kinder nicht besser dran sind, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern in eine Klasse gehen, um an ihrem Nichtbehindertsein zu arbeiten? Und könnte es nicht sein, dass ein Mann immer noch eine Frau ist, selbst wenn er einen BH trägt und fest davon überzeugt ist, eine Frau zu sein. Schließlich wäre durchaus zu fragen, ob ein Mann mit 150 Kilo nur als Übergewichtiger konstruiert worden ist oder einfach sehr ungesund lebt, weil Mensch einfach nicht für so ein Gewicht ausgelegt sind. Ein Witz über den radikalen Konstruktivismus geht so: Ein Arktisforscher, der zu erfrieren droht, wird in letzter Minute von einer Expedition gerettet: Zu den Teilnehmer des Rettungsteams spricht er dankbar: So ein Glück, dass ich sie gerade erfunden habe, um mich zu retten. Es ist eine Anekdote über uns, die wir glauben, es käme nur auf uns an, während uns in Wirklichkeit geholfen werden muss. Es ist ein Witz über unsere Zeit, zu der der radikale Konstruktivismus gut passt. Denn in der Tat glauben heute viele, alles wäre möglich, wenn man nur richtig konstruiert. Wie man seine Konstruktionen vom Irrsein abgrenzen will, müsste allerdings noch erforscht werden.

Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

Optische Täuschung

Es gibt da ein Phänomen, für das ich kein rechtes Wort kenne, welches aber weit verbreitet ist. Ich würde es versuchsweise als emotionale Disproportionalität bezeichnen. So eine emotionale Unverhältnismäßigkeit findet man häufig dann, wenn großes Unrecht eher kaum beachtet wird, jedoch an anderer Stelle in kleinerer Form ganz Gesellschaften erschüttert. So ist es beispielsweise bemerkenswert, dass der Tod von Georg Floyd durch das massive Fehlverhalten der US-amerikanischen Polizei so ein großes Echo fand – auch in Deutschland – obwohl Floyd kein Deutscher ist, kriminell war und eigentlich keine Besonderheit aufwies, außer schwarz zu sein. Der massenhafte Tod in Syrien dagegen, scheint hierzulande kaum jemand seelisch aufzuwühlen.

Was könnten die Gründe sein? Zum einen ist es sicher nicht unbeachtlich, dass der Tod des Schwarzen gefilmt wurde. So wurde für alle sichtbar, welche Ungeheuerlichkeit dort geschah. Denn es ist in der Tat furchtbar zu sehen, wie ein Mann erstickt wird, der um sein Leben bettelt. Dazu kam die Erzählung von dem Fass, das übergelaufen ist. Das Narrativ geht so: In den USA sterben täglich Schwarze durch weiße Polizei, weil es Rassismus gibt. Dieser Tote war nun der eine Tote zu viel. Und wie es immer so mit Narrativen ist, sie sind fest in unseren Köpfen verankert, obwohl sie nur lose mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Laut der Website von Statista sterben seit 2015 35 Schwarze auf eine Millionen Einwohner durch die Polizei. Bei Weißen liegt die Zahl bei 14. Allerdings gehen dreimal mehr Schwarze pro eine Million Einwohner ins Gefängnis als Weiße. Natürlich kann man diskutieren, welche Gründe es für diese Ungleichheit gibt. Aber was man deutlich sieht: Schwarze kommen häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Ist es da überraschend, dass sie auch häufiger erschossen werden? Seit Jahren gibt es übrigens mehr Schwarze in der Polizei, aber nicht weniger Gewalt gegen Schwarze. Spricht das für massiven Rassismus? Eher dafür, dass es in den USA eine grundsätzliche Härte bei der Polizei gibt. Das soll nicht heißen, dass die Polizeikräfte in den USA keinen Rassismus kennen. Doch George Floyd ist wohl in erster Linie deshalb gestorben, weil sich die Polizei in den USA seit den 80igern stark brutalisiert hat.

Doch was noch viel bemerkenswerter ist: Andere Formen von Ungerechtigkeiten können offensichtlich mit der Gewalt im Falle von Georg Floyd nicht mithalten, obwohl diese nicht unwesentlich sind. Zum Beispiel der Syrienkrieg. Im Jahre 2018 kamen in Berlin 100 Leute zusammen, um gegen den Syrienkrieg zu demonstrieren. Bei der BLM-Demo Black waren es zwei Jahre später 2000. In Syrien werden durch russische Piloten Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen bombardiert mit unfassbaren Folgen. Was könnte nun erklären, warum manche wegen George Floyds so wütend sind, aber im Falle des tausendfachen Todes in Syrien eher mit den Schultern zucken.

Nun die Lager für Uiguren in China, die Kriegsopfer in Syrien und die Kinderarbeit in Pakistan kommen einfach auf der Empörungsskala nicht an den Tod von Georg Floyd heran, weil die Menschen nicht perfekt sind. So wie sie wegen eines organischen „Konstruktionsfehlers“ leicht optischen Täuschungen unterliegen, so unterliegen sie auch moralischen Täuschungen und können die Proportionen nicht erkennen. Bei Moral und Empörungen kommt es außerdem sehr stark auf Moden und Strömungen an, nicht auf das Leid, das erfahren wird. Und zurzeit ist eben Rassismus in aller Munde. Man sollte wissen, dass man seiner Moral genauso wenig trauen darf wie seiner Erinnerung oder seinen Augen. Denn Moral braucht eine Geschichte, um uns zu empören. Die von dem Tod durch Rassismus einfach eingängiger als die von dem hundertfachen Tod in Syrien durch russische Jets. Und schließlich gibt es noch den Kieseleffekt: Man versucht sich als Mensch lieber an einem kleinen Stein als an einem Felsen, den man eh nicht heben kann. Wenn man dann den Kiesel in der Hand hält, glaubt man, ein Herkules zu sein. Black Lives Matter wäre der Kiesel, der leichter zu heben ist. Und so bleibt am Ende mit Stalin, einem Menschenkenner erster Güte, nur festzustellen: “Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur Statistik.” Klingt komisch, ist aber so.

Bild von 愚木混株 Cdd20 auf Pixabay